27.08.2024
Unsere Projektkoordinatorin Lisa Macheiner ist vor kurzem von ihrem dritten Einsatz in Gaza zurückgekehrt. Sie berichtet, was sie erlebt hat und warum sie nicht anders kann als zu helfen.

Bevor ich nach Gaza gegangen bin, habe ich einige Wochen lang sehr gut überlegt. Ich habe viele Gespräche mit meinen Kolleg:innen von Ärzte ohne Grenzen, mit meiner Familie, Freund:innen und auch mit einer Psychologin geführt. Dann habe ich mich entschlossen nach Gaza zu gehen, mittlerweile zum dritten Mal in diesem Jahr: Zuletzt zwischen Mai und Juli. 

Ständige Bedrohung

Ich war vorher schon in Libyen, im Jemen und in Afghanistan. Aber den Gazastreifen kann man nicht mit anderen Einsätzen vergleichen: Es gibt dort keine Sicherheit, mittlerweile wird überall gekämpft. Ich habe Gaza als einen meiner bedrohlichsten Einsätze erlebt. Da war diese Nähe zu den Luftangriffen und Kämpfen. In Gaza kannst du nirgends weg, es ist alles so klein und du fühlst dich ständig bedroht. 

Lisa Macheiner
MSF
Lisa Macheiner war bereits drei Mal in Gaza auf Einsatz.

Hunderte Verletzte nach einem Angriff

Wir haben oft hunderte Menschen nach einem Angriff behandelt: Einmal gab es 270 Tote und 700 Verletzte. Aber auch ein Drohnenangriff mit 70 Verletzten ist schlimm und überfordert die besonders prekäre und bereits schwer geschwächte medizinische Infrastruktur. Als ich bei der Rettung in Österreich war, haben wir immer für einen Massenanfall von Verletzten trainiert: Den gab es vielleicht einmal in fünf oder sechs Jahren. In Gaza hatten wir das bis zu viermal die Woche. 

Bei Angriffen sind die Menschen weinend mit Hab und Gut in der Hand an uns vorbeigelaufen um sich in Sicherheit zu bringen. Wir hatten immer wieder Patient:innen mit Kugelverletzungen in Rücken und Beinen, weil auf die davonlaufenden Leute geschossen wurde. 

Destruction in Khan Younis
MSF
Dieses Foto habe ich im Mai gemacht: So sieht es in Khan Younis im südlichen Gaza aus.

Boden- und Luftangriffe

Wenn es einen Bodenangriff gibt, dann liegen oft nur wenige Kilometer von dir entfernt die Verletzten. Aber du kommst nicht hin, weil noch gekämpft wird und die Zufahrtswege aufgrund der Kampfhandlungen abgeschnitten sind. Dann musst du stundenlang warten, und bis dahin sind die meisten verstorben. Nur jene mit den „leichteren“ Verletzungen, oder die es rechtzeitig wegschaffen, überleben.

Bei Luftangriffen ist nicht das Problem, dass du nicht hinkommst: Die Menschen kommen dann von allen Seiten zur Klinik, das sind unbeschreibliche Bilder, die man nicht mehr vergisst. Es wird dann absolut chaotisch, niemand hat mehr einen Überblick. 

Unsere Teams müssen eine Triage machen, das heißt die Patient:innen rasch nach der Schwere ihres Verletzungsgrades einteilen und behandeln, um möglichst viele Leben zu retten. Das ist schwierig, wenn so viele Familienmitglieder ins Krankenhaus mitkommen. Sie sind so verzweifelt, weinen und schreien – die Familienangehörigen rauszubringen, weil nicht genug Platz ist, ist eines der schwierigsten Dinge. 

Die Granatsplitter waren winzig

In Gaza haben wir uns auf Trauma und Verbrennungen spezialisiert. Wir haben durch die massiven Luftangriffe und Explosionen viele komplizierte Knochenbrüche behandelt. Und wir mussten Amputationen durchführen. 

Die Einschusslöcher von Granatsplittern sind winzig, das sind vielleicht zwei Millimeter große Splitter. Aber die Röntgenbilder schauen aus, als wäre ein Traktor übers Bein gefahren: Drinnen entwickeln die Splitter eine enorme Sprengkraft, das sind schwerste Verletzungen. Gleichzeitig gibt es viele Verbrennungen wegen der schlechten Lebensbedingungen: Viele Menschen leben in Plastikzelten, die brennen schnell und verursachen schlimme Wunden.

Engpässe bei Hilfsgütern

Es war wahnsinnig schwierig, mit den Materialien und Hilfsgütern auszukommen: Wir haben keine Krücken gehabt, also haben wir sie von einem Tischler bauen lassen. Dann sind uns die Handschuhe ausgegangen. Immer wieder hat es an Basismaterialien gefehlt. 

Es sind schon Hilfsgüter in Gaza angekommen, aber das war wie ein tropfender Wasserhahn. Manchmal hat es für den regulären Betrieb gerade gereicht. Aber wenn wiederholt hunderte Verletzte auf einmal kommen, wird es eng. Die Menschen haben dann auch stationäre Aufnahmen oder Operationen benötigt, da reden wir noch nicht mal von der Nachsorge. 

Weil das Gesundheitssystem in Gaza zusammengebrochen ist, haben wir die Menschen auch basismedizinisch versorgt. Wir haben viele Hautinfektionen behandelt und einen Ausbruch an Hepatitis A erlebt. Weil die Menschen auf so engem Raum zusammenleben, verbreiten sich Krankheiten rasch. Ich war selbst noch nie so oft krank wie in diesem Einsatz. 

Schwere Wundinfektionen

Manche Patient:innen sind mit einem Fixateur (um gebrochene Knochen zusammenzuhalten) zu uns gekommen. Weil sie immer und immer wieder fliehen mussten, war der Fixateur oft sehr lange drinnen. Die Wundheilung war enorm schwierig, wir haben Wunden mit Maden drinnen wieder aufgemacht. Infizierte Wunden können lebensgefährlich werden: So ist ein Kind an einer schweren Blutvergiftung verstorben, das konnten wir nicht mehr retten. 

In unserer Klinik waren sehr viele Kindern mit amputierten Füßen oder Armen oder Fixateuren, damit Knochen wieder zusammenwachsen. Oft haben wir noch während der stationären Behandlung mit der Physiotherapie begonnen, die Mobilisierung ist ganz wichtig. Aber wie soll diese im Anschluss an die Entlassung fortgeführt werden, wenn die Menschen immer wieder aufs Neue vertrieben werden?

Al Aqsa Hospital - Karin Huster
Karin Huster/MSF
Nach einem Luftangriff im Juni haben wir hunderte Verletzte im Al Aqsa-Krankenhaus behandelt.
Rafah Indonesian Field Hospital
MSF
Ahmed wurde angeschossen, wir haben ihn operiert. Er braucht einen Fixateur.
GAZA: Al Nasser Hospital. Pedriatric and Maternity
Mariam Abu Dagga/MSF
Wir behandeln viele kleine Patient:innen wie diesen Bub, der stationär aufgenommen wurde.
From Rafah to Khan Younis, lives in ruins
Ben Milpas/MSF
Angriffe in Gaza verschonen niemanden.
GAZA: Al Nasser Hospital. Pedriatric and Maternity
Mariam Abu Dagga/MSF
Ein Baby, das im Krieg geboren wurde.

Warum ich in Gaza helfe

Warum ich sogar öfters in Gaza war? Weil die Bedürfnisse der Menschen so groß sind: Da gibt es tausende Verletzte, die medizinische Versorgung brauchen. Gleichzeit kommen Krankheiten wieder, die schon weg waren, so wie Polio, sowas darf einfach nicht sein.

Ich habe oft an die Kinder gedacht: Viele Kinder sagen, dass sie lieber sterben wollen als das alles mitzuerleben. Sie fragen, warum ihnen das passiert, was sie getan haben und wann der Krieg aufhört.

Ich kann das Politische nicht ändern. Aber meine Hoffnung ist, dass diese Kinder sich später daran erinnern, dass jemand da war und sich nicht alle von ihnen abgewendet haben. 

Vielleicht haben sie ihre Familie, ihr Bein oder ihren Arm verloren, aber jemand hat geholfen und sie nicht aufgegeben. Es wird immer eine Zukunft geben. Aber wie diese Zukunft ausschauen wird, wird auch von solchen Erinnerungen geprägt werden.

Gaza - Al Aqsa Hospital
Mohammed ABED

Hilfe, die Leben rettet

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Die Menschen nicht allein lassen

Warum ich in Gaza geblieben bin, ist auch die Solidarität: Für die Bevölkerung und für unser lokales Team. Viele Kolleg:innen arbeiten seit Jahrzehnten für Ärzte ohne Grenzen, wir haben ihnen gegenüber Verantwortung. Sie befinden sich in einer massiven bedrohlichen Situation, weil sie dort leben und sich nirgendwo in Sicherheit bringen können. Als Projektkoordinatorin sehe ich es als meine Verpflichtung meine lokalen Kolleg:innen so gut wie möglich zu unterstützen und zu begleiten.

Ein Krankenpfleger war im Dienst und dann, während des Nachtdienstes, wurde er informiert, dass sein Kind bei einem Luftangriff getötet worden ist. Das muss man sich mal vorstellen, man geht in die Arbeit und sieht sein Kind nie wieder. 

Ich habe jede Woche mein Beileid wegen Todesfällen ausgesprochen. Normal wäre es, wenn man sich danach hinsetzt und die Traurigkeit zulässt. Aber in Gaza war da nicht die Zeit zu realisieren, was passiert. Immer wenn ich das Gefühl hatte, schlimmer geht es nicht mehr, kam es noch schlimmer. Sowas habe ich noch nie erlebt.

Die einzigen Augen in Gaza

In Gaza hatte ich das Gefühl, wir sind auf einem anderen Planeten und die Welt hat sich abgekehrt. Aber wir dürfen die Menschen dort nicht allein lassen. Dieses Dableiben ist so wichtig, damit die Welt weiß, was in Gaza passiert: Journalist:innen haben so gut wie keinen Zugang zum Land. In fast jedem Krisengebiet der Welt findest du Ärzt:innen und Journalist:innen. 

Aber die humanitären Organisationen sind gerade die einzigen Augen in Gaza und müssen sichtbar machen, was mit der Bevölkerung passiert. Deswegen haben viele Menschen Angst, dass wir als Organisation aus Gaza weggehen. Denn dann sieht niemand mehr, was dort passiert. 

Zusammenhalten und Mensch bleiben

Noch nie ist es mir so schwer gefallen wieder nachhause zu gehen. Noch nie habe ich so ein gutes Team gehabt wie in Gaza. Wenn wir Zeit hatten, haben wir auch mal Karten gespielt und trotz all der Traurigkeit gemeinsam viel gelacht. Fragt mich nicht, wie wir das gemacht haben. Wir haben uns nicht darauf fokussiert, dass der Tod um uns herum ist. Sondern darauf, dass wir zusammenhalten und gemeinsam kreative Wege finden, die das schier Unmögliche möglich machen. Es ist diese Menschlichkeit, die ich mir bewahre, während, nach und vor dem nächsten Einsatz.