13.02.2025
Caroline Seguin, Nothilfekoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen, beschreibt im Interview die verheerende Lage im Norden des Gazastreifens.

Wie ist die Lage im Norden des Gazastreifens?

Das Ausmaß der Zerstörung ist enorm. So etwas habe ich noch nie gesehen. Unsere palästinensischen Kolleg:innen erkennen ihre eigenen Stadtviertel nicht mehr wieder. Einige standen bei ihrer Rückkehr unter Schock, andere brachen buchstäblich zusammen. 

Wir waren bereits schockiert über den Grad der Zerstörung in Gaza-Stadt, doch dann fuhren wir in den Norden nach Dschabalia und waren sprachlos. Dort steht fast nichts mehr. Überall sind nur noch Ruinen und Verwesungsgeruch, weil noch immer Leichen unter den Trümmern begraben sind.

Wie steht es um das Gesundheitssystem?

Es gibt kein Gesundheitssystem mehr in Nord-Gaza. Das Kamal-Adwan-Krankenhaus wurde dem Erdboden gleichgemacht, während das Al-Schifa-Krankenhaus, das Al-Auda-Krankenhaus und das Indonesische Krankenhaus schwer beschädigt und nur noch teilweise funktionsfähig sind. 

Wir waren zutiefst schockiert, als wir feststellten, dass im Indonesischen Krankenhaus im Norden anscheinend alle medizinischen Geräte absichtlich zerstört wurden. Medizinische Versorgung ist damit nicht mehr möglich. Man fragt sich, welche Motivation dahintersteckt. Diese Geräte sind dazu da, Menschenleben zu retten – Mütter, Väter, Kinder. Es ist niederschmetternd, den Zustand der Krankenhäuser zu sehen.

Die medizinische Versorgung ist im Verhältnis zum Bedarf von Hunderttausenden Menschen, die in diesem Gebiet leben, völlig unzureichend. So gibt es beispielsweise zwischen Nord-Gaza und Gaza-Stadt nur noch sechs pädiatrische Intensivbetten, verglichen mit 150 vor dem Krieg. Die Zahl der Krankenhausbetten ist von 2.000 auf 350 gesunken.

Gaza North Feb 2025
Nour Alsaqqa/MSF
Im Al-Schifa Krankenhaus ist alles zerstört.

Wie sieht die Versorgungslage aus?

Der Nachschub mit lebenswichtigen Gütern hat sich seit der Waffenruhe verbessert, doch der Bedarf ist so hoch, dass es den Menschen immer noch an grundlegenden Dingen fehlt. Der Bedarf an Lebensmitteln, Wasser, Zelten und Baumaterialien in Nord-Gaza ist nach wie vor kritisch. 

Eine echte Herausforderung ist die Wasserknappheit, da die entsprechenden Anlagen stark beschädigt sind und sich an unzugänglichen Orten in den Pufferzonen befinden. Unsere Teams haben in Dschabalia und Beit Hanun begonnen, Wasser per LKW zu transportieren und beschädigte Bohrlöcher zu reparieren. 

Dies ist aber nur eine vorübergehende Lösung und reicht bei weitem nicht aus, um den enormen Bedarf zu decken. Das Problem ist, dass wir unsere Aktivitäten aufgrund des Krieges im Süden angesiedelt haben und es nun Zeit braucht, sie in den Norden zu verlagern.

Vier Wochen nach Inkrafttreten der Waffenruhe ist die humanitäre Hilfe im Norden des Gazastreifens noch immer nicht in dem Umfang angelaufen, der erforderlich ist. Sie reicht nicht aus, um einer Bevölkerung, die dringend humanitäre und medizinische Unterstützung benötigt, diese lebenswichtigen Dienste zur Verfügung zu stellen. 

Sowohl Israel als auch internationale Akteure müssen dringend die Bereitstellung lebenswichtiger Güter wie Unterkünfte und Lebensmittel sicherstellen und die Kapazitäten für deren Verteilung erhöhen.

Gaza North Feb 2025
MSF
Unsere Teams unterstützen die Menschen in Nord-Gaza durch mobile Kliniken.

Wie sieht die Lebensrealität für die Menschen in Nord-Gaza heute aus?

Die Menschen leben unter schrecklichen Bedingungen. Sie versuchen, sich so gut wie möglich in den Ruinen ihrer Häuser einzurichten, aber das ist extrem schwierig. Durch den Winter sind sie sehr niedrigen Temperaturen, starken Regenfällen und heftigen Winden ausgesetzt – und sie haben nicht einmal Mauern, die sie schützen könnten. Sie haben keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, anständigen Unterkünften oder Wasser.

Jedoch waren die Bedingungen, denen sie während der 15 Monate des Krieges ausgesetzt waren und in denen sie als Vertriebene in Zelten lebten, noch schlimmer. Nach dieser Not wollen sich die Menschen nun wieder mit ihren Angehörigen vereinen, sie wollen bleiben und ihr Leben neu aufbauen. 

Viele von ihnen haben nicht die Absicht, wegzugehen. Es ist essenziell, humanitäre Hilfe konstant und sicher bereitzustellen – für Menschen, die unvorstellbare Traumata erlitten haben.

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