12.02.2025
Katrin Glatz Brubakk ist Kinderpsychologin und aktuell auf Einsatz im Gazastreifen. Schnell ist ihr klar geworden: Das Leiden hier ist noch lange nicht vorbei – trotz Waffenstillstand.

„Jetzt beginnt der Krieg nach dem Krieg", wie meine Kollegin Sabah feststellt. Der Moment, in dem die Menschen erstmal versuchen können, die traumatischen Erlebnisse der letzten 15 Monate zu verarbeiten.

Während des Krieges war Überleben das Einzige, was zählte. Von Tag zu Tag, von Minute zu Minute. Doch jetzt kehrt eine andere Realität zurück: die Trauer. Sie wurde lange verdrängt, weil keine Kraft dafür übrig war. Nun holt sie die Menschen ein. 

Katrin Glatz Brubakk von Ärzte ohne Grenzen in Gaza
MSF
Katrin Glatz Brubakk ist Trauma-Therapeutin für Kinder mit Gewalt- und Missbrauchserfahrungen.

Die Trauer über das Verlorene

Viele Menschen in Gaza haben Angehörige verloren. Manche liegen noch unter den Trümmern, und ihre Familien hoffen, sie eines Tages würdevoll begraben zu können. 

Die eigenen Häuser, Orte voller Erinnerungen, in denen Kinder aufgewachsen und Träume entstanden sind – sie liegen in Schutt und Asche.

Über 90 Prozent der Gebäude in Gaza sind beschädigt oder zerstört. Tausende Menschen müssen weiterhin in notdürftigen Zelten leben, ohne zu wissen, wann sie wieder ein richtiges Zuhause haben werden.

Doch es geht nicht nur um Gebäude. Es geht um die eigene Identität. Menschen, die einst Lehrer:innen, Ärzt:innen, Handwerker:innen oder Studierende waren, sind nun Geflüchtete und Kriegsopfer.  

Wer früher gern Bücher las, hat keine mehr. Wer das Kochen liebte, hat keine Küche mehr. Wer Sport machte, hat keine Sportgeräte mehr.  

Ein Krieg nimmt nicht nur Leben, sondern auch das, was ein Leben ausmacht.

Katrin Glatz Brubakk von Ärzte ohne Grenzen in Gaza
MSF

Von Freundschaften und Wunden, die bleiben

Im Nasser Krankenhaus, in dem ich das Team der psychologischen Gesundheitshilfe leite, habe ich einen neuen Freund gefunden – einen zwölfjährigen Jungen.

Jedes Mal, wenn ich vorbeigehe, lächelt er mich an und winkt.

Wenn ich vergesse zu grüßen, ruft er mich: "Katrin, Katrin, hallo!" Es ist eine kleine Geste, eine winzige Verbindung inmitten des Chaos. 

Doch dieser Junge trägt eine tiefe Wunde. Eine große Brandverletzung auf seinem Kopf verursacht ihm unermessliche Schmerzen. Ich höre ihn manchmal weinen oder sogar schreien vor Verzweiflung.  

Sein Weg wird schwer sein: zahlreiche Operationen, ein Leben ohne Haare, mit einer Narbe, die ihn für immer an diesen Krieg erinnern wird. Was macht das mit einem Kind?  

Ein verlorenes Stück Kindheit

Katrin Glatz Brubakk

Die Kinder von Gaza sind tief traumatisiert. Ein unerwartetes Geräusch kann Panik auslösen. Ihre Angst sitzt tief. Sie werden lange mit den physischen und psychischen Folgen dieses Krieges leben müssen.  

Wir versuchen zu helfen – mit kleinen Momenten des Friedens und der Normalität. Ich blase oft Seifenblasen mit ihnen.  

Das mag banal klingen, doch durch das bewusste Atmen, das Lächeln und das Pusten beruhigt sich das Nervensystem. So können wir verhindern, dass Traumata chronisch werden. 

Doch echte Trauma-Verarbeitung kann erst beginnen, wenn die Unsicherheit aufhört. Wenn sie wieder in sicheren Häusern leben. Wenn sie zur Schule gehen und einen normalen Alltag haben.  

Es macht Sinn, hier zu sein

Trotz der schwierigen Bedienungen macht es Sinn, hier zu sein. Mit meinen wunderbaren lokalen Kolleg:innen zusammenzuarbeiten, zu helfen, wo es geht. Ärzte ohne Grenzen leistet hier einen wichtigen Beitrag – und doch bleibt die bittere Realität:  

Dieser Krieg hat Kindern ihre gesamte Kindheit genommen. Diese Wahrheit ist schwer zu ertragen. 

 

Zur Person: Katrin Glatz Brubakk ist Trauma-Therapeutin für Kinder mit Gewalt- und Missbrauchserfahrungen und Autorin. Mit Ärzte ohne Grenzen war sie bereits in Griechenland, Ägypten, der Türkei, den Palästinensischen Gebieten und auf dem Mittelmeer im Einsatz. 

MSF Clinic in Gaza City (fleeing North Gaza package)
MSF

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