11.12.2024
Caroline Seguin, Notfallkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen, hat den nördlichen Teil des Gazastreifens besucht. Dort toben seit Wochen Kämpfe. Wir haben ihr drei Fragen zur Situation vor Ort gestellt.

Der Regierungsbezirk Nord-Gaza wird seit dem 6. Oktober 2024 ununterbrochen von Angriffen der israelischen Streitkräfte getroffen. Notfallkoordinatorin Caroline Seguin war vor kurzem an der Grenze dieses Bezirks, in Gaza-Stadt. 

Wie ist die Lage vor Ort?

Es ist sehr schwierig und gefährlich, in den nördlichen Gazastreifen zu gelangen. Man muss den Netzarim-Korridor überqueren, eine Linie, die den nördlichen und den südlichen Gazastreifen trennt. 

Dieser Korridor war zu Beginn des Krieges eine einfache Straße. Jetzt ist er acht Kilometer lang und wird von israelischen Streitkräften kontrolliert. 

Obwohl Hilfsorganisationen ihre Bewegungen mit den israelischen Streitkräften koordinieren, um ihre Sicherheit zu gewährleisten, kommt es häufig zu Zwischenfällen. Kürzlich wurden Autos von Hilfsorganisationen innerhalb des Korridors getroffen. 
 

Wenn man den Korridor verlässt, erreicht man Gaza-Stadt. Es ist, als würde man in einer Geisterstadt ankommen: überall Zerstörung, kein einziges Gebäude steht noch.

Es gibt riesige Gebiete, in denen niemand mehr lebt.

In der Umgebung unserer Klinik leben etwa 25.000 Vertriebene. Die Anzahl unserer Patient:innen ist stark gestiegen, nachdem die israelischen Streitkräfte im Oktober eine Offensive im Norden des Gazastreifens begonnen hatten. 

Die Kämpfe toben immer noch und die Situation ist apokalyptisch. Es gibt Angriffe durch Drohnen und Bombardierungen. Zwei unserer Kollegen sind immer noch in Beit Lahia und in Jabalia eingeschlossen. 

ITW Caroline Seguin Northern Gaza
MSF
Gaza-Stadt

Welche Folgen hat es für Gaza, dass die humanitäre Hilfe durch Israel behindert wird?

Wir dachten, das Schlimmste liegt hinter uns. Aber ich glaube, das Schlimmste kommt noch. 

Humanitäre Hilfe in den Gazastreifen zu bringen ist ein riesiges Problem. Immer wieder gibt es Schwierigkeiten bei der Validierung humanitärer Hilfslieferungen durch COGAT (Coordination of Government Activities in the Territories). 

Die medizinischen Geräte, Medikamente, Lebensmittel und andere Hilfsgüter, die per Lastwagen transportiert werden, werden von den israelischen Behörden überprüft. Es ist ein bewusst komplexes System voll von physischen und bürokratischen Hindernissen, mit dem Israel den Fluss von Hilfsgütern nach Gaza behindert. 

Außerdem werden Plünderungen immer häufiger und organisierter. Die wenigen Lastwagen, die es schaffen, hineinzukommen, werden fast systematisch von Banden an den Grenzübergängen ausgeraubt. 

Am 16. November wurden 98 der 109 Lastwagen des Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP), die nach Gaza einfuhren, geplündert. 

Neben der Lebensmittelversorgung gibt es auch Probleme mit Treibstoff. Vor zehn Tagen mussten wir die Verteilung von Trinkwasser halbieren, weil wir nicht genug Treibstoff für die Lastwagen hatten. 

Wir gehören derzeit zu den größten humanitären Wasserversorgern in Gaza, aber der Bedarf ist enorm und wir können ihn nicht decken. 

Gazan's Living conditions’ impact on babies and children's health
Ibrahim Nofal
Die Lebensbedingungen im gesamten Gazastreifen sind katastrophal. Dazu kommt jetzt noch der Winter.

Was bedeutet der Wintereinbruch für die Menschen im Gazastreifen?

Dieses Jahr ist der Winter schnell hereingebrochen . Die Not-Unterkünfte können weder der Winterkälte etwas entgegensetzen noch den sintflutartigen Regenfällen, die wir in den letzten Wochen erlebt haben. 

Gebiete wurden teilweise überflutet, manche der Zelte am Meer wurden überschwemmt.   
 

Man stelle sich 1,7 Millionen Menschen vor, dicht aneinandergedrängt. Im Regen, im Schlamm, mit leeren Mägen. Von oben fallen die Bomben. Es ist katastrophal. 

Gleichzeitig gibt es viele Engpässe, insbesondere bei Lebensmitteln, weil israelische Behörden die Lieferung humanitärer Hilfe behindern. Auf den Märkten wird es immer leerer, Bäckereien schließen, die Preise schießen in die Höhe. 

Ein kleines Brot, das vor wenigen Wochen noch für ein paar Cent zu haben war, kostet jetzt fünf Schekel, also etwas mehr als einen Euro.  
 
Gaza bedeutet für die Menschen: Kälte, Hunger und Bomben. Wir brauchen unbedingt einen Waffenstillstand und uneingeschränkte Hilfslieferungen. Wir brauchen ein Ende dieses Leidens, das besonders Frauen und Kinder trifft. Sie sind auch die häufigsten Todesopfer dieses Krieges.