Wie alles begann
Es war der 22. Dezember 1971, als zwölf französische Ärzte und Journalisten Ärzte ohne Grenzen gründeten. Wie es dazu kam? Die Ärzte Max Recamier und Bernard Kouchner waren während des Bürgerkriegs in Biafra in Nigeria (1967 bis 1970) unterwegs, um Verwundete zu versorgen. Sie sahen, wie Menschen vor Hunger starben und beobachteten Gräueltaten. Es fiel ihnen immer schwerer, sich an das Schweigegebot jener Organisationen, mit denen sie im Einsatz waren, zu halten.
Die Welt wusste nicht, was dort vor sich geht. Es war tragisch!
Die beiden waren nicht allein mit ihren Erfahrungen. Einige Mediziner, die versuchten Betroffenen einer Flutkatastrophe in Bangladesch zu helfen, stießen ebenfalls an ihre Grenzen. Journalisten der medizinischen Zeitschrift „Tonus“ brachten die beiden Gruppen zusammen.
Sie beschlossen, eine neue Organisation zu gründen: mit dem Ziel medizinische Hilfe zu leisten und gleichzeitig öffentlich Position zu beziehen, wenn es die Ereignisse erforderlich machen.
Diese Grundpfeiler prägen uns bis heute.
Fotostrecke: Augenzeug:innen im Einsatz
Seit Ärzte ohne Grenzen 1971 gegründet wurde, haben wir nicht nur in Krisengebieten geholfen und Patient:innen versorgt. Unsere Mitarbeiter:innen berichten auch, was sie erleben. Heute, wie damals:
Thailand, 1976: Hilfe für Geflüchtete aus Kambodscha
Es ist das erste große medizinische Hilfsprojekt für Ärzte ohne Grenzen. Die Teams versorgen Patient:innen aus Kambodscha, die wegen des Genozids nach Thailand flüchten.
Die Öffnung Kambodschas für humanitäre Hilfe wird öffentlich gefordert: „Wir sind hier, um zu fordern, dass das Leben der Zivilist:innen und der entwaffneten Menschen verschont wird“, erklärt Claude Malhuret, ehemaliger internationaler Präsident von Ärzte ohne Grenzen.
Äthiopien, 1984: Protest gegen humanitäre Katastrophe
Wir protestieren gegen eine humanitäre Katastrophe. Hilfsmittel werden von der äthiopischen Regierung umgeleitet.
Wir verlegen die Hilfsprojekte in den benachbarten Sudan: „Solange sich nichts ändert, weiß ich nicht, was wir hier machen. Wenn es nichts zu essen gibt, macht medizinische Versorgung keinen Sinn“, sagt die medizinische Koordiantorin Brigitte Vasset.
Ruanda, 1994: Ohnmachtsgefühl gegenüber dem Völkermord
Der Völkermord in Ruanda 1994 kostet Schätzungen zufolge bis einer Million Menschen das Leben. Entgegen unserer Prinzipien fordern wir die Vereinten Nationen zum Handeln auf:
„Wir sagten: ‚Diese Menschen werden vor unseren Augen ermordet‘. Da galt es, entgegen der humanitären Neutralität einen militärischen Einsatz gegen die Verantwortlichen des Völkermords zu fordern,“ erinnert sich Jean-Hervé Bradol, Projektkoordinator
Nobelpreis, 1999: Friedensnobelpreis für den humanitären Protest
1999 erhält Ärzte ohne Grenzen "in Anerkennung der bahnbrechenden humanitären Arbeit auf mehreren Kontinenten” den Friedensnobelpreis.
Aus der Dankesrede sagt James Orbinski, ehemaliger internationaler Präsident: "Wir wissen nicht, ob Worte Leben retten können, dass Schweigen tötet, hingegen schon“. Er bezieht sich dabei auf die die willkürlichen Bombenangriffe der russischen Truppen auf die tschetschenische Stadt Grosny.
Niger, 2005: Die große Ernährungskrise
Nach Ernteausfällen steigt die Zahl von mangelernährten Menschen rapide an.
Die Ärztin July Meschink ist damals vor Ort: "Regelmäßig kamen mir die Tränen, wenn schwer mangelernährte Kinder bei uns eingeliefert wurden. Oft waren sie nur noch Haut und Knochen. Meine Arbeit als Kinderärztin hatte mich nicht darauf vorbereitet, so viele von ihnen sterben zu sehen.“
Haiti, 2010: Nach dem Erdbeben
Am Jänner 2010 wird der Süden von Haiti von einem Erdbeben der Stärke 7 erschüttert. Rund 230.000 Menschen sterben und 1,5 Millionen Personen werden obdachlos.
„In den ersten fünf Tagen habe ich das Spital nicht einmal verlassen. Auch wenn Haiti nach und nach von den Titelseiten der Zeitungen verschwinden wird, werden die Menschen, die dort alles verloren haben, noch Monate, wenn nicht sogar Jahre Hilfe benötigen", berichtet Paul McMaster, Chirurg
Ebola, 2014: An vorderster Front in Westafrika
Wir helfen von Anfang an bei der Bekämpfung der Ebola-Epidemie in Westafrika. In Guinea, Sierra Leone und Liberia betreiben die Teams mehrere Ebola-Hilfsprogramme in Westafrika. Sie beinhalten die Betreuung von Verdachtsfällen und bestätigten Fällen, Aufklärungs- und Überwachungsaktivitäten und die Versorgung von Überlebenden.
Jackson Naimah, medizinischer Assistent, der damals im Einsatz ist, erzählt: „Ich kann den Menschen doch nicht beim Sterben zusehen. Aber allein können meine Kolleg:innen und ich Ebola nicht besiegen. Wenn die internationale Gemeinschaft nicht endlich eingreift, stirbt mein Volk.“
Bangladesch, 2017: Die Rohingya - ein Kampf ums Überleben
Die ethnische Minderheit muss aus Myanmar fliehen. In dem Flüchtlingslager Cox Bazar leben rund 700,000 auf engstem Raum, ohne offizielle Papiere, ohne Anerkennung und ohne ausreichende Versorgung.
„Das Lager ist eine tickende Zeitbombe. Die Situation droht sich in eine echte Gesundheitskrise zu verwandeln. Die Hygienesituation ist prekär, die Verzweiflung groß“, berichtet Joanne Liu, internationale Präsidentin von Ärzte ohne Grenzen.
COVID-19-Pandemie, 2020: Anpassung und Solidarität
Die COVID-19-Pandemie stellt uns als Organisation vor ganz neue Herausforderungen. Es ist schwieriger unsere Hilfseinsätze durchzuführen. Dafür starten wir in einigen europäischen Ländern Hilfsaktivitäten zur Eindämmung des Virus.
Monica Rull, medizinische Leiterin, ist beeindruckt vom weltweiten Zusammenhalt der Menschen: „Solidarität ist in Krisenzeiten nicht selbstverständlich. Doch wenn wir uns nicht weiterhin für andere einsetzen, dann fordert COVID-19 mehr als Menschenleben: Sie lässt uns unsere Menschlichkeit vergessen.“
Gazastreifen, 2023: Gesundheitssystem vor dem Zusammenbruch
Seitdem der Israel-Gaza-Krieg im Oktober 2023 eskaliert ist, wird es für die Zivilbevölkerung im Gazastreifen immer schwieriger.
Es gibt keinen Strom. Es gibt es kein Wasser. Es gibt kein Essen. Die meisten Krankenhäuser sind nicht mehr in Betreib. Die, die noch in Betrieb sind, haben kaum mehr Medikamente und medizinische Ausrüstung, um Patient:innen zu versorgen.
Christopher Lockyear, Generalsekretär von Ärzte ohne Grenzen sagt vor dem UN-Sicherheitsrat: „Wir fordern einen sofortigen Waffenstillstand in Gaza. Es ist an der Zeit, Leben zu retten und das humanitäre Völkerrecht zu respektieren."
Was hat sich seit 1971 verändert?
Was ist heute anders als vor unserer Gründung? Wir haben die Methoden unserer Arbeit und unsere Logistik verbessert, können so noch schneller und effektiver handeln.
Nicht geändert hat sich, dass es Gewalt, Kriege und Naturkatastrophen gibt. Immer noch wird unsere Arbeit dringend benötigt. So lautet unser Ziel nach wie vor: Für Patient:innen da zu sein. Trotz vieler Rückschläge sind wir seit damals mit ganzem Herzen im Einsatz.
Unabhängigkeit, Unparteilichkeit und Neutralität sind immer noch die Grundlage für unser humanitäres Handeln. So gelingt es uns weiterhin unter politisch aufgeladenen Bedingungen zu arbeiten. Unsere unzähligen privaten Spender:innen machen das möglich.
Trotzdem müssen wir uns als Organisation ständig weiterentwickeln und unsere Arbeitsweisen hinterfragen.