20.11.2024
Lisa Macheiner war als Projektkoordinatorin bereits in Libyen, im Jemen, Afghanistan und zuletzt dreimal in Gaza. Sie erzählt über ihre Einsätze und Sekunden, die über Leben und Tod entscheiden.

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Manchmal fragt man sich: Was wäre, wenn es diese Sekunden nicht gegeben hätte? Wenn man anders reagiert oder entschieden hätte? In meinen Einsätzen habe ich immer wieder solche Momente erlebt.

Lisa Macheiner
MSF
Lisa Macheiner hat als Projektkoordinatorin oft erlebt, dass Sekunden zählen.

Da war dieser Luftangriff in Gaza in unmittelbarer Nähe vom Krankenhaus. Wir haben es erst kurz vorher bemerkt, als die Menschen reingelaufen sind, um Schutz zu suchen. Dann ging es um Sekunden: Die Patient:innen mussten aus den Zimmern raus und so schnell wie möglich weg von den Fenstern, wegen der Gefahr durch eventuelle Glassplitter verletzt oder gar getötet zu werden. 

Jede:r im Team hat es sofort verstanden. Wir sind losgelaufen um die Patient:innen wegzutragen und sie zu vor zusätzlichem Schaden zu bewahren. Das bleibt einem in Erinnerung, dieses JETZT, dieser Moment, der über Leben und Tod entscheiden kann. 

GAZA: Al Nasser Hospital. Pedriatric and Maternity
Mariam Abu Dagga/MSF
In Kriegsgebieten wie Gaza kann sich jeden Moment alles ändern. Unsere Teams tun ihr Bestes, um jedes Leben zu retten.

Libyen: Ein Bub in der Wüste

In Libyen war ich auf meinem ersten Einsatz. Zuerst haben wir die Menschen in den Internierungslagern (Lager in denen Menschen ohne Gerichtsverfahren festgehalten werden) medizinisch versorgt. Dann haben diese Lager geschlossen und wir haben mit mobilen Kliniken gestartet: Wir behandelten Patient:innen mit Tuberkulose, Hauterkrankungen, Durchfällen und vielen anderen Krankheiten. 

Das schlimmste aber waren die Traumata durch die Gewalt in den Folterzentren. Wir haben Menschen zusammengebrochen und ausgehungert auf den Straßen gefunden; mit Wunden und Brandlöchern von ausgedrückten Zigaretten am Körper. In Libyen gibt es viele Überlebende von Menschenhandel, daher bieten wir psychosoziale Unterstützung an.

Diese eine Situation werde ich nie vergessen: Wir haben mitten in der Wüste einen elfjährigen Buben gefunden. Seine Mutter war verstorben und er hat auf eigene Faust versucht die Grenze zwischen Libyen und Tunesien zu überqueren.

In Libyen sind sehr viele bewaffnete Milizen aktiv. Wir mussten daher in kürzester Zeit entscheiden, was wir tun. Denn Menschenhandel ist in Libyen stark verbreitet und ohne Familie wäre er sehr wahrscheinlich mitgenommen worden. 

Als Team haben wir entschieden, dass wir das nicht zulassen können. Wir haben entschieden, dass das ein Notfall ist und den Buben in die Klinik gebracht. Schließlich konnten wir seine Schwester ausfindig machen, sie konnte ihn dann zu sich holen. Ohne diese Entscheidung, wäre es ihm heute nicht möglich, ein Leben in Sicherheit zu führen.

In dreißig Minuten sind alle draußen

In Libyen habe ich mich immer gefürchtet, dass ich als Projektkoordinatorin das Team evakuieren muss. Und dann war es soweit: Zwei bewaffnete Gruppen haben sehr nahe von unserem Arbeitsplatz gekämpft. Das ging über den ganzen Tag und wir waren nicht sicher, ob es nicht noch schlimmer wird. 

Also haben wir in einer Kampfpause entschieden, dass wir in der nächsten halben Stunde dringend raus müssen. Dann war da diese Ruhe wie im Auge eines Zyklons, obwohl alles sehr schnell ging: Jede:r hat seinen Rucksack genommen, wir sind in die Autos rein und losgefahren. In Ausnahmesituation wie dieser ist es manchmal sehr leicht, weil alle zusammenhalten.

Erdbeben in Afghanistan

Mein nächster Einsatz ging letzten Jahres nach Herat, Afghanistan. Ich habe in einem riesigen Krankenhaus gearbeitet: Dort leiten wir die Kinderabteilung einschließlich der Triage, der Notaufnahme, Intensivstation und das therapeutische Ernährungszentrum. Mit den schweren Erdbeben hat in dieser Region niemand gerechnet. Wir waren deswegen nicht darauf vorbereitet. Das war kurz vor Ende meines Einsatzes.

Als die Erde plötzlich gebebt hat, ging alles blitzschnell: Wir mussten zuerst das Krankenhaus evakuieren und haben sofort die Kinder rausgebracht. Als alle draußen waren, hat unser Team sich im Kreis aufgestellt: Wir haben knapp besprochen, wer was übernimmt und wie wir jetzt den Verletzten helfen können. 

Es war fast magisch, wie wir zusammengearbeitet haben. Wir waren sofort im Notfallmodus und sind in eine absolute Funktionalität gegangen. Wir haben eine Intensivstation unter den Bäumen aufgebaut. Dann sind die Verletzten gekommen.

Es ging darum, Leben zu retten und die Menschen sofort zu behandeln. Wenn ich heute daran zurückdenke, bin ich so stolz auf das ganze Team, wir sind alle noch immer in Kontakt und sprechen heute noch über diesen einen Moment.

Third earthquake struck Herat on 15 October
Paul Odongo/MSF
Nach den Erdbeben in Herat musste alles schnell gehen.

Wenn man rasch handeln muss

Was mir auch erst auf Einsatz bewusst geworden ist: Wie wichtig private, projektunabhängige Spenden sind. Denn dadurch bekommen wir die Möglichkeit, sehr schnell, unbürokratisch und pragmatisch zu sein. Wenn ein Notfall passiert, können wir sofort handeln und müssen nicht erst warten, bis die Spenden dafür kommen. 

Ob in Gaza, Libyen oder Afghanistan: Ich habe in meinen Einsätzen schon viele Momente erlebt, wo es schnell gehen musste. Diese Entscheidungen, die ich als Projektkoordinatorin in kurzer Zeit treffen muss, schaue ich mir mit mehr Abstand an. 

Dann überlege ich, ob und was ich anders gemacht hätte. Das ist ein Lernprozess, mit dem ich wachse. Das hilft mir in zukünftigen Einsätzen die richtigen Entscheidungen zu treffen, wenn es um Sekunden geht. Um Sekunden, die Leben retten.

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Sekunden mit Bedeutung

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