22.02.2024
Dr. Khassan El-Kafarna ist ein ukrainisch-palästinensischer Chirurg, der momentan in einem Krankenhaus im Osten der Ukraine arbeitet. Im Blog spricht er über das Leben in seinen beiden Heimatländern, die sich im Kriegszustand befinden.

Zwischen zwei WeltenIm Moment bin ich im Hauptkrankenhaus in Kostiantynivka stationiert. Die Frontlinie bewegt sich und wir waren schon oft in ihrer Nähe. Jeden Tag hören wir die Artillerie und das Geräusch von Explosionen am Rande der Stadt. 

Wir behandeln hier alle Arten von Patient:innen: Von Menschen, die eine einfache Operation benötigen, bis hin zu Explosionstraumata mit Mehrfachverletzungen.  

Wenn Patient:innen in Massen kommen

Letzten Sommer war es besonders schlimm. Wir hatten es öfter mit einem Massenansturm von Verletzten zu tun. Es gab mindestens vier derartige Vorfälle, vielleicht auch mehr - man verliert den Überblick. 

When a mass casualty incident happens, it’s very sudden. We never get any warning beforehand, as the areas where it happens have no mobile phone network.

Das erste Zeichen, das wir sehen, ist der Rettungswagen, der mit Verletzten im Krankenhaus ankommt. Sie sagen uns, was passiert ist und dass wir mit weiteren Ankünften rechnen müssen.  

Dann kommen die Patient:innen in Wellen. 

Wir bringen die Verletzten schnell in die Notaufnahme, wo wir mit der Triage und der medizinischen Versorgung beginnen.  

Es ist immer chaotisch. Jeder im Team rennt herum, holt Medikamente und bestellt Blutbestandteile, rote Blutkörperchen und Plasma. In manchen Notfällen brauchen wir so viel Blut, dass wir im Krankenhaus nach weiteren Blutspenden fragen müssen.  

Es ist sogar schon vorgekommen, dass unser medizinisches Personal Blut gespendet hat. 

Vater und Tochter

Einige der Patient:innen, die wir behandeln, bleiben einem in Erinnerung. Da war zum Beispiel ein 16-jähriges Mädchen aus Toretsk, das mit ihrem Vater an einer Bushaltestelle gestanden ist.  

Als eine Schießerei losgegangen ist, hat er versucht, sie zu schützen. Er wurde getroffen und war auf der Stelle tot. Sie hatte eine große Wunde am Oberschenkel. Das Mädchen hatte sehr viel Blut verloren. Als sie zu uns gebracht wurde, war sie klinisch tot. 

Wir konnten keinen IV-Zugang legen und mussten stattdessen einen alternativen Zugang legen, bei dem ein Loch in den Knochen gebohrt wird, um auf diese Weise Medikamente zu verabreichen. Wir haben sie intubiert und ihr Flüssigkeit gegeben. Die Behandlung hat angeschlagen: Sie hatte wieder einen Puls und wir haben sie gleich in den OP gebracht. 

Wir haben sie operiert, die Wunde gereinigt und sie stabilisiert.  

Doch als sie aus dem OP gekommen ist, war ihr Blutdruck instabil. Wir haben sie auf der Intensivstation behalten und der Notarzt und ich sind die ganze Nacht bei ihr geblieben.  

Sie hat den Morgen überlebt, und wir haben beschlossen, sie in ein Krankenhaus in Dnipro zu verlegen, in dem sie eine bessere Versorgung bekommen kann. Ein paar Tage später haben wir erfahren, dass sie im Krankenhaus gestorben war. 

Of course, it’s the nature of the job that you see people die, but it can still be very difficult, particularly when it involves kids.

Manchmal kann man nicht vorhersagen, wer überleben wird.

Eine große Überraschung

Eine meiner Patientinnen war eine etwa 55 Jahre alte Frau, die schwer verletzt war. Wir waren uns nie sicher, ob es sich um eine Kugel oder ein Schrapnell gehandelt hat, aber es hatte die rechte Seite ihrer Brust durchschlagen und eine große Austrittswunde von etwa 20 cm Durchmesser hinterlassen. Die Kugel hatte die großen Gefäße nur um Millimeter verfehlt, so dass sie in dieser Hinsicht großes Glück hatte. 

Als die Frau zu uns gebracht wurde, dachten wir ehrlich gesagt, sie würde die Operation nicht überleben.  

Sie hatte gebrochene Rippen, eine durchstochene Lunge und Blut in der Brusthöhle. Auch nach der Operation war sie lange Zeit instabil. Aber wir haben sie weiter behandelt, vier weitere Operationen durchgeführt, und im Laufe der Wochen ist es ihr langsam besser gegangen.  

Etwas mehr als einen Monat nach ihrer Ankunft konnten wir sie entlassen, und sie hat das Krankenhaus mit einem Lächeln verlassen. Ihre Genesung war eine große Überraschung für uns. 

Ein Schuljunge aus Gaza

Ich wollte schon immer Chirurg werden. Ein Elternteil von mir ist aus Gaza und der andere aus der Ukraine. Ich wurde in Kiew geboren, bin aber in Beit Hanoun im Gazastreifen aufgewachsen.  

Ich habe in Gaza Gewalt erlebt. Ich war Zeuge von Invasionen und kenne viele Menschen, die getötet wurden. Ich habe erlebt, wie unser Haus beschädigt wurde und wie Soldaten in unser Haus eingedrungen sind. 

I remember seeing MSF vehicles in Gaza when I was growing up. 

Ich habe damals nicht viel über Ärzte ohne Grenzen gewusst - aber ich wusste, dass sie Ärzt:innen waren, die Menschenleben retten. 

Leben und Arbeiten im Krieg

Meine Eltern sitzen derzeit im Gazastreifen fest und versuchen zu fliehen. Jeden Morgen, wenn ich aufwache, nehme ich als Erstes mein Telefon in die Hand, um zu sehen, ob ich Neuigkeiten von ihnen habe. Ich wache morgens auf, mache die Augen auf und hoffe, dass sie noch am Leben sind. 

In einem Krieg kann man nie völlig sicher sein. Es passieren Dinge - es ist Krieg. Dieses Krankenhaus könnte angegriffen werden.  

But to work here you have to throw that idea in the trash every day and get on with your work, otherwise you would not be able to function.

Ärzte ohne Grenzen hat gute Sicherheitsbeauftragte und Evakuierungspläne, also überlasse ich das alles ihnen und mache meine Arbeit. 

Was wir hier tun, ist wichtig. Wir leisten einen Beitrag zur Verbesserung der medizinischen Versorgung in der Ukraine.  

Für mich ist der schönste Aspekt der Arbeit mit Ärzte ohne Grenzen: Der Unterschied, den wir für einzelne Menschen machen. Die Patient:innen kommen zu uns, wir behandeln sie, und viele von ihnen werden wieder gesund. Das ist für mich als Arzt sehr motivierend. 

 

Update: Den Eltern und dem Bruder von Dr. Khassan gelang es Ende 2023, den Gazastreifen zu verlassen, und sie leben jetzt in der Ukraine.