20.02.2025
Gerade ist er von seinem vierten Einsatz in der Ukraine zurückgekommen: Unser Notarzt und Internist Tankred Stöbe berichtet über die Not im Kriegsgebiet und wie wir helfen.

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Die unsichtbare Katastrophe

Drei Jahre seit Kriegseskalation. Drei Jahre Leid und Tod. Drei Jahre, in denen die Ukraine sich an einen andauernden Ausnahmezustand anpassen musste. Und auch wir medizinischen Helfer:innen.

Überall ist spürbar, wie sich die Bedrohung und die Angriffe auswirken: In der Hauptstadt Kiew und von Charkiw bis Odessa. Doch je näher ich der Front gekommen bin, desto deutlicher wird die Tragödie, die sich hier abspielt. 

Tankred Stöbe
Tankred Stöbe/MSF
In den Einsatz: In der Ukraine bin ich über 6.000 Kilometer mit der Bahn gefahren, um unsere Projekte zu erreichen.

Hunderttausende Schwerverletzte

Seit Beginn der Eskalation im Jahr 2022 gibt es in der Ukraine mehrere hunderttausend Schwerverletzte. Wir reden hier auch von Menschen, die ihre Arme oder Beine verloren haben, abgerissen durch Splitter und Explosionen. Solche Verletzungen passieren an der Front. Und sie treffen auch Zivilist:innen, die in den umliegenden Gebieten leben.
 

Zu lange Rettungsketten

Nicht nur die Verletzung an sich ist das Problem - sondern auch die Frage, wie die Betroffenen schnellstmöglich Hilfe bekommen. Die medizinische Rettungskette ist lang und voller Hürden. Viele Verletzte warten in lebensbedrohlichem Zustand stunden- oder sogar tagelang auf Evakuierung. Das endet dann oft tödlich.

Bei schweren Verletzungen an Armen oder Beinen werden häufig Abbindebänder angelegt: Sie stoppen die Blutungen, das ist lebenserhaltend. 

Doch oft bleiben die Abbindebänder viel zu lange dran, Gliedmaßen sterben dadurch ab. So kommt es zu vielen zusätzlichen Amputationen.

Es sind viele Behandlungsstationen, die die Patient:innen durchlaufen: Zuerst kommen sie zu Stabilisierungsstützpunkten, dann in ein nächstgelegenes Krankenhaus mit besserer Versorgung. Oft ist erst das dritte, vierte oder fünfte Krankenhaus eines mit umfassenden Behandlungsmöglichkeiten. 

Tankred Stöbe mit Patient
Tankred Stöbe/MSF
Mit einem Patienten im Gespräch, dessen Anonymität gewahrt wird.
MSF Jeep
Tankred Stöbe/MSF
Krankentransporte sind sehr wichtig, um die Patient:innen zu versorgen.

Wir haben mehr als 20 Ambulanzfahrzeuge: Mit ihnen transportieren wir Schwerverletzte aus den frontnahen Spitälern in zentraler gelegene Krankenhäuser.

Tödliche Keimverschleppung

Zusätzlich sehe ich in der Ukraine eine alarmierende Zunahme von multi- und panresistenten Keimen – Bakterien, gegen die keine Antibiotika mehr helfen. Verletzte mit solchen Infektionen sind oft nicht mehr zu retten. Da haben wir keine medizinischen Werkzeuge mehr in der Hand. Um eine Keimverschleppung zu verhindern, sind eine sterile Chirurgie, hygienische Transporte ins Krankenhaus und Isolierstationen im Krankenhaus wichtig.

Rehabilitation für Körper und Seele

Die Frührehabilitation ist entscheidend für eine erfolgreiche Heilung. Aber sie beginnt oft zu spät oder gar nicht. Idealerweise sollte sie innerhalb einer Woche nach der Verletzung einsetzen: Denn sonst zieht sich der Muskel zurück, die Gelenke versteifen sich und die gesamten Heilungschancen werden deutlich schlechter.

Unsere Teams stellen in zwei Krankenhäusern, in Cherkasy und in Odessa, Frührehabilitation bereit: Sie bestehen aus Physiotherapie, psychologische Betreuung und Wundversorgung – all das ist in der Ukraine Mangelware. Wir sind die einzigen, die das anbieten. Eine adäquate Schmerzbehandlung fehlt jedoch nach wie vor häufig.

MSF Patient Yurii, 48 Years Old
Yuliia Trofimova/MSF
Yurii muss nach schweren Verletzungen erst langsam wieder gehen lernen.
MSF Patient Mr Yurii is focusing on balance exercises, 53 Years Old.
Yuliia Trofimova/MSF
Dieser Patient erhält Physiotherapie nach einer Amputation.
Psychological session for MSF patient  Vladyslav
Anhelina Shchors/MSF
Unsere Psychologin Viktoriia Muliarova besucht die Patient:innen im Krankenhaus in Cherkasy täglich.
MSF early rehabilitation project in Cherkasy
Anhelina Shchors/MSF
Dieser Patient erhält Frührehabilitation von unserem Team in Cherkasy.

Neben Medikamenten und Spendengeldern braucht es Expert:innen vor Ort. 

Deswegen stellen wir dutzende Physiotherapeut:innen und Psycholog:innen bereit. Der Bedarf ist gewaltig: Das sind hunderttausende Schwerverletzte, die nicht nur Soforthilfe, sondern auch umfassende Rehabilitation benötigen.

Die psychische Last: "Bitte erzählen Sie es niemandem"

Nicht nur die Körper, auch die Seelen sind schwer verletzt. Soldat:innen, Zivilist:innen, Ärzt:innen – sie alle tragen unvorstellbare Lasten. Im ersten Jahr des Krieges haben viele Verwundete psychologische Hilfe abgelehnt. "Flicken Sie mich zusammen, ich will weiterkämpfen", habe ich oft gehört.

Doch das hat sich geändert. Jetzt kommen die Menschen von sich aus: "Herr Stöbe, bitte helfen Sie mir. Ich kann nicht mehr schlafen, ich habe Flashbacks, Angstzustände." 

Doch der Bitte folgt oft dieser Satz: "Erzählen Sie es niemandem, nicht meiner Familie, nicht der Öffentlichkeit. Sie würden es nicht verstehen."

Die psychologische Belastung in der Ukraine ist erdrückend. Und sie wird durch die Angst vor Zwangsrekrutierungen noch verstärkt. Viele junge Männer fürchten, gegen ihren Willen in die Armee eingezogen zu werden. Denn sie wissen, dass sie an der Front kaum eine Überlebenschance haben.

Ein zerstörtes Gesundheitssystem

Krankenhäuser sollten Schutzräume sein. Doch in der Ukraine sind sie oft Angriffsziele. Seit Februar 2022 gab es laut der Weltgesundheitsorganisation mehr als 2.200 Angriffe auf medizinische Einrichtungen. Mehr als zwei pro Tag.

Ich kenne kein Krankenhaus in Frontnähe, das nicht beschossen wurde. Unzählige sind zerstört, viele unbrauchbar, andere notdürftig wieder instand gesetzt. 

Wir von Ärzte ohne Grenzen tun unser Bestes, um unter diesen Bedingungen weiterzuarbeiten. In Frontkrankenhäusern verbarrikadieren wir Fenster mit Sandsäcken, oder verlegen OP-Säle in Kelleretagen, um uns vor Angriffen zu schützen. 

Völkerrechtswidrig? Ja. Alltag? Leider auch.

Tankred Stöbe in der Ukraine
Tankred Stöbe/MSF
Krankenbetten in den Kelleretagen.
MSF Ukraine
Tankred Stöbe/MSF
Im Notfall sind unsere Patient:innen und wir hier vor Angriffen sicher.

Eine Welt, die wegschaut

Die Ukraine steht vor einer neuen Herausforderung: Das internationale Interesse lässt nach, die Hilfsgelder werden massiv gekürzt.

Da wir als Ärzte ohne Grenzen zu hundert Prozent durch Spendengelder finanziert werden, können wir unsere Hilfseinsätze weiterführen. Aber viele andere Organisationen sind auf staatliche und internationale Unterstützung angewiesen. Sie müssen Personal entlassen, weil das Geld fehlt. 

Wenn andere Hilfsstrukturen wegfallen, wächst der Druck auf uns: Denn die Menschen brauchen ja weiterhin lebensrettende Hilfe. Gleichzeitig ist das nicht nur in der Ukraine so – es gibt weltweit mehr Krisen als je zuvor. Gaza, Sudan, Jemen, es brennt an allen Ecken.

Die Menschen geben alles

Bei allem Leid gibt es auch Hoffnung. Die Ukrainer:innen beeindrucken mich tief. Trotz der ständigen Bedrohung und Unsicherheit, arbeiten Ärzt:innen, Pflegekräfte und Helfer:innen unermüdlich weiter. Sie haben eine unglaubliche Courage und einen unbändigen Willen, ihr Land zu retten – auch medizinisch.

Diese Haltung inspiriert auch mich. Ich mache weiter, weil ich nicht anders kann. Weil ich sehe, wie dringend die Hilfe gebraucht wird und dass ich als Arzt helfen kann. Und weil ich hoffe, dass die Welt nicht wegsieht.

Patient Pavlo experiencing leg injuries
Olexandr Glyadyelov

Ihre Spende rettet Leben

Gemeinsam bringen wir medizinische Hilfe zu Menschen in Not – und retten Leben. 

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