Breadcrumb
Themengebiet:
Seit Beginn des Krieges im Gazastreifen wurden mindestens 38.000 Palästinenser:innen getötet. Mehr als die Hälfte von ihnen sind Frauen und Kinder. 87.000 weitere werden verletzt. Diejenigen, die überleben, sind auf der Flucht.
Berichte von unseren Mitarbeiter:innen zeigen deutlich, dass es in Gaza nirgendwo sicher ist. Zwei von ihnen sind Kamil* und Haidar*.
* Namen wurden zum Schutz der handelnden Personen geändert.
Als der Krieg ausbricht
Notfall-Krankenpfleger Kamil und Wachmann Haidar gehören zu dem Team, das während der Bombardierungen zwischen Oktober und November 2023 schwer verletzte Patient:innen im Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt behandelt.
Sie werden bis heute 18 Mal vertrieben.
„Als der Krieg begann, lebten wir noch vier Tage lang zu Hause“, sagt Kamil. "Meine Kinder sind damals aufgewacht und haben auf mich gewartet. Ich habe sie in den Arm genommen und beruhigt. Ich sagte ihnen, dass es ein Feuerwerk sei und keine Bomben. Es war sehr schwierig." Am fünften Tag des Krieges trifft eine Drohnenrakete das oberste Stockwerk von Kamils Haus. Er und seine Kinder ziehen ins Büro von Ärzte ohne Grenzen und leben dort mit Kolleg:innen.
Darunter ist auch unser Mitarbeiter Haidar. Seine Frau und Kinder bleiben in ihrem Haus, das in einem sichereren Viertel im Norden Gazas liegt.
Unermüdlicher Einsatz in der Klinik
Kamil und Haidar arbeiten weiterhin täglich in einer Klinik und im Al-Shifa-Krankenhaus. Diese sind überfüllt mit Patient:innen mit schweren Verbrennungen und Schrapnellwunden. „Die Patient:innen, die ich in diesem Krieg gesehen habe, sind anders als in früheren Kriegen“, sagt Kamil.
Die meisten haben tiefe Verbrennungen mit Schrapnell. Viele haben Gliedmaßen verloren oder infizierte Wunden. Den Geruch von Infektionen werde ich nie vergessen - es riecht wie schlechtes Öl.
Haidar fügt hinzu: „Wir hatten jeden Tag 30 bis 40 Patient:innen in der Klinik, während wir gleichzeitig im Al-Shifa-Krankenhaus arbeiteten und Dutzende weitere behandelten. Das haben wir 40 Tage lang gemacht, bis es zu gefährlich wurde. Denn die israelische Armee kam immer näher."
Das Wasser geht aus
Anfang November sind mindestens 75 Menschen – Mitarbeiter:innen von Ärzte ohne Grenzen und ihre Familien - in der Klinik und in der Team-Unterkunft untergebracht, während draußen die Kämpfe toben. „Die Situation war wirklich schlimm und wir hatten alle Angst“, sagt Haidar. "Wenn wir die Tür geöffnet haben, gab es Feuer und Schüsse. Sie schossen auf Menschen auf der Straße."
In den folgenden Wochen verschlechtern sich die Lebensbedingungen rapide. „In diesen Wochen hatten wir nicht genug Wasser, um uns zu waschen oder zu trinken“, sagt Haidar. "Wir hatten nicht genug zu essen. Zwei Wochen später hatten wir überhaupt kein Wasser mehr."
Eine Kugel trifft Alaa
Mitte November spitzt sich die Situation zu: Das Al-Shifa-Krankenhaus, die Klinik, das Büro und die Unterkunft von Ärzte ohne Grenzen sind von Kämpfen und Bombenangriffen umgeben. Unser Team und ihre Familien müssen die Stadt verlassen. Am 18. November macht sich ein Konvoi mit Genehmigung der israelischen Behörden auf den Weg in den Süden des Gazastreifens. Der Konvoi wird allerdings an der Durchfahrt durch den israelischen Kontrollpunkt gehindert. Er muss umkehren.
In einem der Fahrzeuge befinden sich Kamil und der Krankenpfleger Alaa Al-Shawaa mit ihren beiden Familien. Auf dem Rückweg, etwa 500 Meter von der Klinik entfernt, sehen sie zwei israelische Panzer vor dem Al-Shifa-Krankenhaus und Scharfschützen auf den umliegenden Gebäuden.
Die israelischen Streitkräfte eröffnen das Feuer auf das Auto. Eine Kugel trifft Alaa am Kopf. „Die Kugeln trafen mich nur knapp an der Stirn und eine Kugel durchschlug Alaas Kopf“, sagt Kamil. „Er war vornübergebeugt und sein Kopf lehnte in Richtung Lenkrad, nahe an meinen Armen, sodass es für mich schwierig war, weiterzufahren. Überall im Auto war Blut. Ich versuchte, nach rechts in Richtung Büro abzubiegen und den ersten drei Autos zu folgen, denen es gelang, abzubiegen, bevor sie zu schießen begannen."
Kamil und dem Rest des Konvois gelingt es, dem Beschuss zu entkommen und die relative Sicherheit der Klinik zu erreichen. Nachdem sie geparkt haben, tragen sie Alaa vom Beifahrersitz des Wagens in die Klinik, können ihn aber nicht wiederbeleben.
Als ich sah, dass er tot ist, bekam ich einen Schock. Ich konnte mich nicht mehr beherrschen, ich konnte nicht mehr denken und bin am Straßenrand zusammengebrochen.
Schutz in der Klinik
In den folgenden Tagen halten sich das Team und ihre Familien in der Klinik und in der Team-Unterkunft versteckt. Währenddessen rücken israelische Streitkräfte mit einem Bulldozer bis zur Klinik vor. Am 24. November tritt dann endlich ein vorübergehender Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas im Gazastreifen in Kraft.
Die israelischen Streitkräfte ziehen sich aus dem Gebiet zurück. Es wird erneut ein Konvoi organisiert, damit unser Team und ihre Familien in den Süden ziehen können. Dieses Mal schaffen sie es.
Das Team kommt im Süden des Gazastreifens an und setzt seine Arbeit fort. Kamil fährt täglich zum europäischen Gaza-Krankenhaus und kümmert sich um die Versorgung der vielen Verletzten. Haidar fährt weiterhin die medizinischen Teams zum indonesischen Krankenhaus und kümmert sich um ihre Sicherheit.
Persönliche Verluste und Leben in Angst
Eine Woche später erhält Haidar eine niederschmetternde Nachricht. „Zu diesem Zeitpunkt begann hat eine andere Art von Leid begonnen“, sagt Haidar.
Ich erhielt die Nachricht, dass meine Schwester und ihre Kinder in Gaza-Stadt getötet wurden. Ich bin in eine Depression verfallen.
„Dann wurden eine meiner Nichten und ihre Kinder getötet. Dann, im Süden, wurden mein Neffe, seine Frau und seine Kinder getötet, nachdem ein Bulldozer in ihr Haus gefahren ist. In dieser Woche wurden zwanzig Menschen aus meiner Familie getötet. Meine Großmutter war so traurig, dass sie kurz darauf auch gestorben ist. Als das alles passierte, war ich in einer wirklich dunklen Lage, aber ich habe versucht, weiterzuarbeiten."
Am 8. Jänner, etwa zwei Monate nachdem Kamil und Haidar im südlichen Gazastreifen angekommen sind, schlägt eine israelische Panzergranate in die Unterkunft des Teams ein. Dabei kommt die fünfjährige Tochter eines Mitarbeiters ums Leben und drei weitere Menschen werden verletzt.
Nach dem Angriff werden mehr als 125 Mitarbeiter:innen und ihre Familien in die ACAS-Universität in Rafah umgesiedelt. Diese liegt einen Kilometer von der ägyptischen Grenze entfernt. Dort bleiben sie für die nächsten zwei Monate. „Wir hatten ständig Angst, aber wir hatten keine anderen Möglichkeiten“, sagt Haidar. "Es gab Bombenanschläge und Schießereien. Einmal haben sie ein Gebäude neben uns bombardiert und die Splitter haben die Universität getroffen. Wir haben eine Weile so gelebt, bis die Invasion von Rafah ankündigt wurde."
Leben auf der Flucht
Seit dem Einmarsch in Rafah wissen Kamil und Haidar, wie viele andere Palästinenser:innen, nicht, wohin sie noch gehen sollen. Haidar zieht im Gebiet von Al-Mawasi von Ort zu Ort und wohnt in einem Zelt.
Ich wurde schon acht Mal zwangsumgesiedelt, im Durchschnitt einmal im Monat.
"Vor zwei Tagen gab es eine weitere Vertreibung. Ich habe 24 Stunden lang nicht geschlafen, weil wir wegen der Explosionen von einem Ort zum anderen gezogen sind. Ich denke immer an meine Frau und meine Kinder im Norden des Gazastreifens und leide jeden Tag", erzählt Haidar.
Seit Kamil Rafah verlassen musste, ziehen er und seine Kinder mehrmals in und um die Lager Al-Mawasi und Al-Bureij in der Mitte des Gazastreifens um. Derzeit sind sie in Al-Bureij, aber er betont, dass sie nirgendwo vor den Bombardierungen sicher sind. „Nirgendwo ist es sicher und die Bedingungen sind schrecklich“, sagt Kamil.
"Wir haben nicht genug Essen, Wasser, Medizin oder Kleidung. Wir haben keine Schuhe. Es gibt nichts. Es ist sehr schwer, meine Kinder so zu sehen." Kamil kann das psychische Trauma, das seine Kinder durch ihre Erlebnisse erlitten haben, nur erahnen.“
Selbst gestern, als die Kinder mit meinen Neffen spielten, hörte ich, wie sie die Geschichte von Alaa erzählten, sie erzählen immer wieder die Geschichte von Alaa. Sie sind bis heute traumatisiert.
Genug ist genug
Nach Angaben der Vereinten Nationen werden 90 Prozent der Menschen im Gazastreifen seit Beginn des Krieges zwischen Israel und der Hamas mindestens einmal vertrieben. Die meisten von ihnen müssen unter entsetzlichen Bedingungen leben.
Haidars größter Wunsch ist es, wieder mit seiner Familie in Gaza-Stadt vereint zu sein: "Genug ist genug. Genug des Tötens, genug der Bombardierungen, genug der Schießereien“, sagt Haidar. "Du kannst dein Haus wieder aufbauen, du kannst alles wieder aufbauen. Aber was du nicht tun kannst, ist, Menschen, die uns verlassen haben, zurückzubringen. Sie können nie wieder zurückkommen."