Kommentar von Ramon Ritter
06.02.2025
Normalerweise arbeitet Ramon Ritter im Wiener Büro von Ärzte ohne Grenzen. Für unseren Noteinsatz war er im Libanon. Was er dort als Koordinator des Logistikteams erlebt hat, berichtet er selbst.

Es ist der 22. Oktober 2024, der Tag meiner Abreise in den Einsatz. Ich bin auf dem Weg zum Flughafen. Und da lese ich die Schlagzeile einer großen Tageszeitung: „Beirut brennt!“ 

Mehr noch: Der Flughafen in der Hauptstadt Libanons muss die Landebahn wegen des Feuers und des Rauchs wechseln. Eine gewohnte Landung ist unmöglich. Das macht mich etwas nervös, denn genau dorthin geht mein Flug.

Ankunft nach Angriff

Als ich mein Gepäck aufgebe, fragt mich der Fluglotse, wo ich sitzen möchte. Ich frage: „Sind denn nicht so viele Passagier:innen an Board?“ Er antwortet: „Nein, das wird quasi ein Privatjet sein.“ Letztendlich sitzen 20 Personen in der Maschine. 

Nach ein paar Stunden landen wir. Aus dem Fenster sehe ich dichte, graue Wolken über den Bergen. Es wirkt wie ein Unwetter. Doch dann wird mir klar, dass der Rauch von schweren Bombardierungen in der Umgebung stammt – und dass ich bald ganz in der Nähe sein werde.

Warum ich hier bin

Die massiven Luftangriffe im Süden Libanons und in Beirut haben bereits Mitte September begonnen. Tausende Menschen wurden verletzt, hunderttausende mussten immer wieder aufs Neue fliehen. Viele von ihnen leben in Notunterkünften. Die Krankenhäuser sind überlastet, der Bedarf an Hilfe enorm. 

Es ist sehr kalt, gerade hat der Winter eingesetzt. Jene Menschen, die ihr Zuhause verloren haben, frieren. 

In diese Situation komme ich, um als Koordinator des Logistikteams zu helfen. Es folgen sechs intensive Wochen: Wochen, in denen mein Team und ich fast rund um die Uhr arbeiten. Denn alles ist dringend und die Zeit knapp.

70.000 Decken, Matratzen & Kissen

Während meines Einsatzes verteilen wir mehr als 40.000 Hygiene-Kits, 70.000 Decken, Matratzen und Kissen, sowie über 40.000 Wintermäntel. Das bedeutet für die Menschen nicht nur Wärme und Schutz, sondern auch ein Stück Würde. 

Außerdem stellen wir Isoliermatten, Heizgeräte, Millionen Liter Trinkwasser sowie Medikamente bereit: um die Gesundheit der Menschen zu erhalten und ihre Lebensbedingungen zu verbessern.

War, winter, and little respite: Lebanon’s displaced brace for the cold
Tracy Makhlouf/MSF
Decken und Wintermäntel schenken den Menschen etwas Wärme.

Jede Decke, jedes Medikament, ist gleichbedeutend mit unzähligen Stunden voller Teamarbeit und Hingabe. 

Auch eine logistische Hochleistung steckt dahinter: Unser zentrales Warenlager befindet sich in der Hauptstadt Beirut. Hier liegen auch der wichtigste Markt und Hafen, hier kommen die meisten Güter an. Doch diese müssen erst einmal besorgt werden.

Enorme Nachfragen

Für die Vertriebenen brauchen wir sehr schnell Hilfsgüter. Doch innerhalb weniger Tage und Wochen gibt es eine enorm hohe Nachfrage an Decken und Winterkleidung. Das verändert den gesamten lokalen Markt dramatisch.

Eine Luftfracht aus Europa ist aufgrund der Situation unmöglich: Kaum eine Fluggesellschaft fliegt noch den Libanon an. 

Beinahe die einzige Möglichkeit ist lokal einzukaufen. Dank unserer starken Beziehungen zu Lieferant:innen bekommen wir hier auch viele Güter. Gleichzeitig bestellen wir eine große Lieferung aus der Türkei, trotz der langen Lieferzeit von vier Wochen.  Damit entlasten wir den libanesischen Markt. 

Lagerplatz wird eng

Eine weitere Herausforderung ist die Lagerung: Unser Warenlager in Beirut, von dem die Hilfsgüter ins ganze Land gehen, hat nur begrenzte Kapazitäten. Also schicken wir die großen Lieferungen direkt zu den Notunterkünften. Das spart Platz und ist effizienter: Die Hilfsgüter kommen schneller bei den Menschen an.

Täglich Luftangriffe

Die Sicherheitslage beschäftigt uns sehr. Ich selbst bin im 13. Stock eines Hochhauses untergebracht. Die Fenster gehen nach Süden hinaus. Da der Süden von Beirut gezielt bombardiert wird, sehe ich die Explosionen fast täglich. Wenige Sekunden später höre ich sie auch. 

Wenn du in der Nacht von einer Explosion aufwachst, dann jagt dein Puls hoch und du kannst stundenlang nicht mehr einschlafen. Da beeindruckt mich die Resilienz unserer lokalen Kolleg:innen. 

„Könnt ihr schneller sein?“

Doch nicht nur die Sicherheit unseres Teams ist wichtig, sondern auch jene der Lieferant:innen und Fahrer:innen. Fast täglich bekommen wir zu hören: „Wir können nicht liefern. Es gibt Angriffe neben dem Lager oder auf der Straße.“ Manche Fahrer:innen weigern sich, bestimmte Gebiete anzufahren, weil es zu riskant ist.

Gleichzeitig rufen unsere mobilen Einsatzteams an: „Die Leute frieren draußen. Könnt ihr noch schneller sein?“ Der Druck ist enorm, aber wir sehen auch die Wirkung unserer Arbeit. Dafür geben wir alles.

War, winter, and little respite: Lebanon’s displaced brace for the cold
Maryam Srour/MSF
Der Transport der Hilfsgüter ist herausfordernd.

Tägliche neue Wege finden

Jeden Tag gibt es eine Herausforderung, die ich vorher noch nie so erlebt habe. Als Logistiker muss ich mich darum kümmern, dass die richtigen Hilfsgüter rechtzeitig bestellt werden. Und zeitgerecht dorthin kommen, wo die Menschen sie brauchen. Ich mag diese Herausforderung, für jedes Hindernis eine Lösung zu finden.

Endlich der Waffenstillstand

Dann kommt der Tag des Waffenstillstands: Es ist der 26. November 2024. Ich fühle die Aufbruchsstimmung in Beirut. Überall sieht man Menschen, die ihre Autos mit Matratzen, mit Habseligkeiten, beladen. Sie kehren in den Süden zurück. 

Dieses Gefühl ist einzigartig: Das Gefühl, die Menschen während einer schwierigen Zeit begleitet zu haben. 

Und dann zu erleben, wie sie aufatmen, wie sie sich freuen. Und wie sie nach Wochen und Monaten in ihr Zuhause zurückkehren.

Wenige Tage später endet mein Einsatz, und ich befinde mich wieder am Wiener Flughafen. Seit meiner Abreise sind sechs Wochen vergangen. Die Zeit ist wie im Flug vergangen – und es fühlt sich gleichzeitig wie eine Ewigkeit an.