Kommentar von Marcus Bachmann
15.10.2024
Marcus Bachmann war im Sudan. Der humanitäre Berater bei Ärzte ohne Grenzen Österreich erzählt über die dramatische Lage - und über seine Eindrücke aus dem Krankenhaus in El Geneina, Darfur.

Als ich nach El Geneina im Sudan gekommen bin, war ich erschüttert. Weite Teile der Stadt sind komplett zerstört und verlassen. Das ist wie eine schreiende Leerstelle. Aber was noch viel tiefer greift: Du spürst die Traumata, bei den einzelnen Menschen genauso wie in der Gesellschaft. Das war kein Gefühl von Normalität. Sondern ein kollektiver Ausnahmezustand.

Ich habe als Einsatzleiter bereits in sehr vielen Konflikt- und Kriegskontexten gearbeitet. Aber es fällt mir schwer, die Situation im Sudan zu vergleichen. 

Der brutale Krieg wütet bereits seit eineinhalb Jahren. Millionen Menschen wurden aus ihrem Zuhause vertrieben. So sind zum Beispiel bereits 910.000 Menschen allein aus der Darfur-Region im westlichen Sudan in den Tschad geflohen. 

Verwundete Städte

Die Grenze zwischen dem Sudan und Tschad ist offen. Die Straße nach West-Darfur ist in schlechtem Zustand, mein Team und ich sind sehr langsam vorangekommen. Und dann fährst du durch die Vorstädte von El Geneina. Es wird sehr bedrückend: Du siehst überall die Spuren der Kämpfe, die stattgefunden haben. Das sind Geisterstädte, verwundete Städte. Mehr als die Hälfte der Menschen, die gesamte ethnische Gruppe der Masalit, musste vor der massiven Gewalt fliehen. 

El Geneina: Krankenhaus geplündert

Besonders dramatisch wird es, wenn man das Universitätskrankenhaus El Geneina besucht. Es war einmal eines der wichtigsten Krankenhäuser in Darfur: Früher gut ausgestattet und für mehr als eine Million Menschen eine medizinische Anlaufstelle. Doch dann kamen die Kämpfe und das gesamte Personal musste im Juni 2023 fliehen. Das Krankenhaus wurde komplett geplündert und praktisch zerstört: Bis zum letzten Stromkabel, Lichtschalter und der Türklinke war alles weg. 

Kinderstation wieder aufgebaut

Zuallererst haben unsere Teams die Wasser- und Energieversorgung wieder hergestellt. Ohne diese Infrastruktur gibt es keine medizinische Versorgung. Aber so ein riesiges Krankenhaus komplett aufzubauen, übersteigt unsere logistischen, finanziellen und personellen Kapazitäten. Und wir sind die einzige medizinische humanitäre Hilfsorganisation, die derzeit in El Geneina und ganz Darfur hilft.

Wir haben uns zuerst auf die verletzlichsten Gruppen konzentriert: Kinder unter fünf Jahren sowie mangelernährte Kinder. Also haben wir die Kinderstation wieder aufgebaut. Wir unterstützen auch eine Blutbank, die ist für viele Menschen lebenswichtig.  

Medikamente und Ausrüstung fehlen

Was schmerzhaft ist: Knapp 80 Prozent der Gesundheitsversorgung im Sudan sind zerstört oder funktionieren nicht mehr. Was das konkret bedeutet? Acht von zehn Menschen sterben, weil sie keine oder keine adäquate Behandlung bekommen. 

So verlieren auch im Krankenhaus El Geneina in der Notaufnahme Patient:innen mit leicht behandelbaren Diagnosen ihr Leben, weil entscheidende Medikamente fehlen. 

Die einfachsten medizinischen Instrumente sind nicht vorhanden. Auch die beiden Operationssäle sind absolut minimal eingerichtet, man kann kaum unter sterilen Bedingungen operieren.

Abteilungen geschlossen

Viele fachspezifische Abteilungen wie die Dialyse- oder Tuberkulose-Stationen sind komplett geschlossen. Es ist dramatisch, dass die Dialyse-Maschinen unwiederbringlich zerstört sind. Auch bräuchte es nur wenig, um Frauen mit Geburtskomplikationen zu retten. Im kommenden Frühjahr werden wir die Geburtenstation und Neugeborenen-Abteilung wieder aufbauen. 

Im Überlebensmodus

Es war eine trügerische Ruhe, als ich in El Geneina war. In der kurzen Zeit habe ich keine aktiven Kämpfe oder Luftangriffe erlebt. Aber du spürst, dass sich das jede Sekunde ändern kann. Du spürst die Anspannung und diesen Überlebensmodus. 

Jede:r versucht den Tag zu überstehen, etwas Wasser und Nahrung zu bekommen, vielleicht ein Medikament aufzutreiben. Da trinkt niemand irgendwo ruhig einen Tee.

In der Notaufnahme erfahren wir von Angehörigen, dass sie alles verkaufen mussten, um sich den Transport ins Krankenhaus zu leisten. Es hat Tage gedauert, bis sie das Geld und eines der wenigen Transportmittel aufgetrieben haben. Als die Patientin endlich ins Krankenhaus kam, war sie in einem sehr kritischen Zustand. Ich weiß nicht, ob sie es geschafft hat.

Weitermachen trotz Angst

Die Ärzt:innen, Pflegekräfte und das Personal vom Gesundheitsministerium bekommen seit Kriegsbeginn keine Gehälter mehr. Trotzdem bleiben sie und erzählen: „Wir gehen jeden Tag zur Arbeit, aber haben jeden Tag Angst. Wir wissen, dass das Krankenhaus kein sicherer Ort mehr ist. Das humanitäre Völkerrecht wird in diesem Krieg nicht respektiert.“ Im Sudan gibt es immer wieder Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen.

MSF Team in El Geneina
MSF

Einzige Hilfsorganisation in Darfur

Die Region Darfur ist so groß wie Österreich, Deutschland und die Schweiz zusammen. Millionen Menschen leiden unter der Gewalt, haben kaum Nahrung, Wasser und keine Gesundheitsversorgung. Doch wir sind derzeit die einzige humanitäre Hilfsorganisation mit großen Teams in dieser Region. 

Warum es zu wenig Hilfe für Darfur und den Sudan gibt? Es ist wie ein Multiorganversagen: Es fehlt an Bewusstsein, Betroffenheit und Beteiligung. 

Kaum jemand weiß, wie dramatisch der Sudankrieg ist. Kaum jemand weiß, dass dort die größte Ernährungs- und Geflüchtetenkrise weltweit herrscht. Es gibt kaum Medienpräsenz, kaum Zugang für Journalist:innen in das Land. Gleichzeitig fehlen öffentliche Gelder, die internationale Gemeinschaft muss dringend helfen. 

Bleiben, um zu helfen

Ich habe den allergrößten Respekt vor dem Gesundheitspersonal, das jeden Tag ins Krankenhaus kommt. Trotz der Angst vor einem Angriff. Sie begegnen den Patient:innen oft mit leeren Händen, ohne ausreichend Medikamente oder Ausrüstung. Und sie kommen trotzdem täglich ihrem Beruf, ihrer Berufung, nach. Nie zuvor habe ich so inspirierende Menschen getroffen, die alles geben, was möglich ist.

Gerade das medizinische Personal ist die Schlüsselstelle in Krisengebieten. Wie oft habe ich in anderen Einsätzen erlebt, dass Fachkräfte das Land verlassen, sobald sie können. Aber nicht hier im Sudan: Hier sind die Menschen bereit zu helfen. Und wir müssen sie dabei unterstützen, das zu tun.