Kommentar von Marcus Bachmann
14.08.2024
Marcus Bachmann, humanitärer Berater bei Ärzte ohne Grenzen, warnt vor den erschreckenden menschlichen Kosten der EU-Migrationspolitik.

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Seit Jahren findet gegenüber Flüchtenden eine rhetorische Aufrüstung statt. Ihr folgen zunehmend auch Taten – deren Folgen werden zu wenig thematisiert. 

Als Außenminister Alexander Schallenberg vor Kurzem Athen besuchte, war er voller Lob: Griechenland habe „250.000 Menschen aus Seenot gerettet“. Jede Kritik der Untätigkeit gehe „ins Leere“. Griechenland verdiene bei der Bekämpfung der illegalen Migration „unsere volle Unterstützung und Solidarität“. 

Inhalt und Timing dieser Aussagen sind bemerkenswert: Griechenland wird nicht Untätigkeit, sondern grober Rechtsbruch vorgeworfen. Kurz vor Schallenbergs Besuch förderte eine BBC-Dokumentation massive Vorwürfe gegen die Küstenwache zutage.  

Überlebende berichteten, sie seien auf griechischen Inseln gejagt und anschließend auf dem Meer ins Wasser geworfen worden – manche gefesselt.

Die Küstenwache soll für 40 Todesfälle in drei Jahren verantwortlich sein. 

Schallenberg thematisierte dies nicht öffentlich, noch die zahlreichen weiteren tödlichen Vorfälle, in die die Küstenwache involviert war. Auch die meisten heimischen Medien hakten nicht nach. 

Die menschlichen Kosten dieser Praktiken

Dieses Schweigen passt in ein politisches Gesamtbild, das zunehmend die Alarmglocken läuten lässt. Wir erleben derzeit eine Verschiebung der Narrative, in der aggressive Abwehrmaßnahmen gegen Flüchtende und Migrant:innen immer mehr als Standard akzeptiert werden. 

Es wird zunehmend in Kauf genommen, dass Asylsuchende ohne Prüfung über Grenzen zurückgeschoben werden („Pushbacks“); dass Bootsflüchtlinge in Libyens Lagern interniert werden; dass der EU-Grenzschutz an Länder wie Tunesien und Marokko ausgelagert wird; und dass es auch innerhalb der EU immer mehr Beweise für illegale Praktiken gibt – siehe Griechenland. 

Immer weniger Beachtung finden hingegen die menschlichen Kosten dieser Politik. Genau diese nehmen aber proportional zur steigenden Brutalität zu. Wo blieb die Reaktion, als ein Massengrab mit Leichen von Migrant:innen an der tunesisch-libyschen Grenze gefunden wurde? 

 

Stattdessen finanziert Österreich weiterhin ein Ausbildungszentrum der tunesischen Grenzpolizei – der vorgeworfen wird, in ebendiesem Gebiet Flüchtende einfach in der Wüste auszusetzen. 

Auch über die humanitäre Notlage an der polnisch-belarussischen Grenze hört man wenig. Vor wenigen Tagen sprach die Hilfsorganisation NRC in einem Bericht von 9.000 gewaltsamen Pushbacks und 82 Toten seit 2021. Die politische Situation dort ist vertrackt– nichts rechtfertigt aber einen derart brutalen Umgang mit Menschen, die Schutz suchen. Menschenrechte gelten für alle. 

Hinsehen statt verschweigen

In allen Hotspots der EU-Abschreckung sind auch unsere medizinischen Teams tätig. Ärzte ohne Grenzen behandelte innerhalb von zwei Jahren mehr als 28.000 Patient:innen, die an EU-Grenzzäunen, bei Pushbacks oder mangels Rettung auf hoher See zu Schaden gekommen sind. Männer, die verprügelt wurden; Kinder, die man von Grenzzäunen geschüttelt hatte; Frauen, die ihre Kinder auf See verloren hatten und akute psychologische Hilfe benötigten. 

Diese Daten führen in aller Deutlichkeit vor Augen, was Politiker:innen verschweigen, wenn sie ihre Abschreckungsmaßnahmen loben. Sie erzählen ihren Wähler:innen nicht, dass ihre Politik Menschen real verletzt und sogar tötet. 

Sind wir wirklich bereit, das alles in Kauf zu nehmen um Flüchtende von Europa fernzuhalten? Auch die Aushöhlung des Rechts, die damit einhergeht – für uns alle? Diese Fragen sollten wir uns jetzt ernsthaft stellen.  

Was wir jetzt brauchen, ist eine neue Grundannahme, auf die wir unsere Flucht- und Migrationspolitik basieren. Wir müssen Menschlichkeit und Menschenrechte in das Zentrum der Bemühungen stellen. Hinschauen, statt zu verschweigen. Das ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von Weitsicht und ermöglicht neue Lösungen. 

Die Politik der Unmenschlichkeit muss durch eine der Vernunft und des Rechts ersetzt werden. 

 

Dieser Kommentar erschien in der Tageszeitung Die Presse am 25.Juli 2024

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