29.05.2024
Wenn Menschen flüchten, müssen sie oft alles zurücklassen. Wir haben Überlebende auf unserem Rettungsschiff Geo Barents gefragt, welche Dinge sie seit ihrer Flucht immer bei sich tragen.

Seit 2015 führen wir Such- und Rettungsaktionen im zentralen Mittelmeer durch. Im Mai 2021 nimmt eines unserer Teams die Arbeit auf dem Rettungsschiff Geo Barents auf. In diesen drei Jahren retten sie über 11.300 Menschen. Und mit ihnen ebenso viele Geschichten und Erinnerungen. 

Wenn Menschen gezwungen sind, aus ihrer Heimat zu fliehen und auf der Suche nach Schutz und Sicherheit alles zurückzulassen: Was ist dann das Einzige, was sie bei sich tragen? 

Diese Frage stellen wir den Überlebenden an Bord seit Oktober 2023 regelmäßig. Hier zeigen uns fünf Personen, was sie immer bei sich tragen: 

Fotos von Familie und Freund:innen

"Ich habe Fotos von meinem Mann, meinen Kindern, meinen Geschwistern, meinen besten Freund:innen. Sogar dieses Foto, das auf meinem Studentenausweis war. Das für mich wertvollste Foto ist das meines Vaters, der verstorben ist. Ich trage all diese Fotos bei mir, um die Erinnerungen lebendig zu halten. Mit dem Krieg in Syrien ging jede:r an einen anderen Ort. Einige meiner Freund:innen gingen nach Norwegen, andere in die Niederlande, einige blieben in Damaskus, ich ging nach Kobanî. Ich musste die Universität verlassen, mein Viertel, meine Freund:innen, den Ort, an dem ich aufgewachsen bin. Der Krieg hat uns auseinandergerissen. Und auch wenn ich sie jahrelang nicht gesehen habe, bleiben ihre Erinnerungen durch die Fotos erhalten.“

- Dilba, 30 Jahre alt, aus Syrien

Dilba wird am 5. Februar 2024 von Ärzte ohne Grenzen gerettet, als sie versucht, das Mittelmeer auf einem überfüllten Holzboot zu überqueren.

Ein Skorpion-Ring

"Der Skorpion hat für mich einen besonderen Charakter. Er ist einzigartig, wie ein Löwe oder ein Adler. Die Person, die mir diesen Ring geschenkt hat, ist ebenfalls einzigartig und etwas Besonderes für mich. Der Ring hat mir viel Hoffnung gegeben. Nicht Glück, sondern Hoffnung und Kraft, als ich hoffnungslos war und nicht weiter wusste. Ich werde mich nie von diesem Ring trennen. Selbst wenn ich heiraten sollte, werde ich den Ehering an einen anderen Finger stecken."

- Zeyad, 24 Jahre alt, aus Ägypten

Ziyad wird am 1. Mai 2024 von Ärzte ohne Grenzen aus einem Holzboot gerettet, das in Seenot geraten ist. Er hat Ägypten vor zwei Jahren verlassen und hat nun zum zweiten Mal versucht, das zentrale Mittelmeer zu überqueren.

Eine Uhr als Symbol der Liebe

"Mein Mann, Moataz, und ich haben uns vor langer Zeit kennengelernt. Er hat mir diese Uhr geschenkt, als wir uns verliebt haben. Später haben wir geheiratet, und seitdem habe ich nicht aufgehört, sie zu tragen. Ich habe die Uhr mitgenommen, als wir nach Libyen gereist sind. Obwohl ich Angst hatte, sie zu verlieren oder dass sie gestohlen werden könnte. Für mich war es so wichtig, sie zu haben, weil diese Uhr seine Liebe zu mir symbolisiert. Als ich in Libyen in Haft war, hatte ich eine Hautallergie, aber ich habe sie anbehalten. Ich trage sie, wenn ich schlafe, mich wasche oder was auch immer ich tue. Denn diese Uhr verbindet mich stark mit ihm."

- Madrid, 28 Jahre alt, aus Syrien

Am 5. Februar 2024 macht sich Madrid zusammen mit ihrem Mann, ihrem Sohn und ihrer Schwiegermutter auf einem seeuntüchtigen Boot von Libyen auf den Weg nach Europa. Die vier werden zusammen mit 130 weiteren Menschen mitten im Mittelmeer gerettet.

Ein Abschiedsgeschenk von der Mutter

Was Menschen auf der Flucht immer bei sich tragen
Stefan Pejovic/MSF

"Dieser Hut bedeutet mir sehr viel. Es ist kein traditioneller Hut, aber er ist trotzdem wunderschön. Ich habe ihn, seit ich Syrien vor zwei Jahren verlassen habe. Meine Mutter hat ihn mir geschenkt und mir gesagt, ich solle ihn bei mir tragen. Er hat mich auf der ganzen Reise begleitet, sogar in der Haft. Als ich in Libyen im Gefängnis war, habe ich diese Mütze benutzt, um meine Augen zu bedecken und zu schlafen: Damit ich die Überfüllung und die Umstände, unter denen die Menschen leben, nicht sehe. Wenn ich sie verlieren würde, könnte keine andere Mütze sie ersetzen.“

- Mohammad, 33 Jahre alt, aus Syrien

Am 5. Februar 2024 retten unsere Teams 134 Menschen in Not von einem überfüllten Holzboot im zentralen Mittelmeer. Mohammad ist einer von ihnen.

Eine Sim-Karte voller wichtiger Nummern

Was Menschen auf der Flucht immer bei sich tragen
Stefan Pejovic/MSF

"Ich hatte Angst, meine SIM-Karte zu verlieren, denn sie enthält die Telefonnummern meiner Familie und meiner Lieben. Ich habe sie in den schwierigsten Momenten der Reise geschützt. Sie ist die einzige Verbindung, die ich zu den Menschen habe, die ich in meinem Land zurückgelassen habe. In Libyen habe ich sie während der Inhaftierung in den Nähten meines T-Shirts versteckt. Das hat funktioniert, sie haben die SIM-Karte nicht gefunden. Ich habe sie immer noch bei mir, und dafür bin ich sehr dankbar." 

- Precious, 27 Jahre alt, aus Nigeria

Precious verlässt Nigeria im Januar 2022 aufgrund der zunehmenden Gewalt und der instabilen politischen Lage. Sie verbringt 10 Monate in Libyen, wo sie verhaftet wird. Am 15. Oktober 2023 retten sie unsere Teams mitten in der Nacht aus einem überfüllten Schlauchboot. Es ist ihr vierter Versuch, Europa über das Meer zu erreichen.

Erinnerungen, die Hoffnung geben

Nachdem wir regelmäßig mit Menschen auf der Flucht sprechen, können wir zwei Dinge sicher sagen: 

Viele Menschen haben nichts weiter bei sich als die Kleidung, die sie bei sich tragen. Entweder, weil sie nichts mitnehmen können, wenn sie flüchten. Oder weil sie auf ihrer Reise der wenigen Dinge beraubt werden, die sie bei sich tragen.

Der Wert der Gegenstände, die die Menschen auf ihrer Reise bei sich tragen, geht weit über Geld hinaus. So klein sie auch sein mögen, es sind wertvolle Besitztümer – oft die einzigen Erinnerungsstücke an ein früheres Leben, die Hoffnung auf eine gute Zukunft geben.