Bitte bleibt noch - es gab Kämpfe.

Kommentar von International Bloggers
09.06.2022
Edward Chu ist Notarzt und einer unserer medizinischen Berater. Kürzlich kam er aus der Ukraine zurück, wo er Schulungen für das Triagieren gab....

Einer meiner ersten Einsätze war in der Zentralafrikanischen Republik. Eines Abends, meine Schicht war vorbei, und ich wollte mit ein paar Kolleg:innen das Krankenhaus in Bangui verlassen, da hielt uns am Tor unser leitender Krankenpfleger auf: „Bitte bleibt noch. Es gab Kämpfe.“ Ich spürte, wie sich mein Puls beschleunigte. Kurz darauf erreichten die ersten Motorrad-Ambulanzen das Krankenhaus. Es wurde voll in unserer Notaufnahme. Mehr als 20 Verwundete wurden gebracht: Patient:innen mit Stichwunden und Schussverletzungen.  

Ich verschaffte mir einen Überblick: Wen müssen wir sofort versorgen? Wen können wir soweit stabilisieren, dass wir ihn später behandeln können? Sechs Patient:innen benötigten eine Operation, wir hatten aber nur einen Operationssaal. Wir mussten schnelle Entscheidungen treffen. Als erstes kümmerte ich mich um einen Mann, der um Atem rang. Ich entdeckte eine Stichwunde, seine Lunge war verletzt. Mir war klar, dies ist eine Verletzung, die rasch zum Tod führen kann. Mit jedem Atemzug trat Sauerstoff aus seiner Lunge aus und sammelte sich im Brustraum – drückte auf seine Lunge, bis sie kollabieren würde. Damit er wieder atmen konnte, musste ich umgehend den Druck ablassen. Vor meinen Augen sank sein Sauerstoffgehalt im Blut rapide: 90 % … 80 % … 70 %... Ab 60 % würde sein Herz so unterversorgt sein, dass es aufhören würde zu schlagen. Ich setze einen Schnitt zwischen seinen Rippen. Es gab ein zischendes Geräusch, als die Luft entwich. Der Mann konnte umgehend wieder atmen. Innerhalb von Sekunden veränderte sich sein Zustand: Aus einem Mann, der dem Tode nahe war, wurde ein stabiler Patient, und wir konnten ihn auf die Station bringen. Zum Glück schätzten wir den Zustand aller Patient:innen richtig ein, und konnten sie an die Kolleg:innen im Operationssaal übergeben. Unsere Chirurg:innen arbeiteten die ganze Nacht durch. Den letzten Patienten operierten wir in den frühen Morgenstunden des Folgetages. Der Mann mit der kollabierten Lunge blieb noch ein paar Tage im Krankenhaus, bis seine Wunde verheilt war. Dann konnte er wieder nach Hause. Mir wurde damals bewusst, dass ich mein Wissen nicht nur anwenden, sondern auch teilen will. In meiner heutigen Position als medizinischer Berater reise ich regelmäßig in unsere Einsatzländer und schule die Teams vor Ort. Unter anderem in sogenannten „Großnotfall- Trainings“: Wir versetzen uns gemeinsam in eine Situation, in der wir mit vielen Verwundeten gleichzeitig konfrontiert sind. Praxisnah üben wir, wie wir die Patient:innen einteilen, um die größtmögliche Zahl bestmöglich zu versorgen.  

Der Krieg rückt näher

Kürzlich erst bin ich aus der Ukraine zurückgekehrt. In der Stadt Lwiw schulte ich in einem Krankenhaus das medizinische Personal. Das Team dort hatte uns um Unterstützung gebeten. Als wir mit dem ersten Training begannen, konnte ich die Anspannung im Raum fast körperlich spüren. Kein Wunder, der Krieg rückte immer näher. Ich ging mit den Teilnehmer:innen unter anderem die wichtigsten Fragen durch, die beim Eintreffen von Verletzten zu stellen sind. Manche können wir durch unsere Beobachtung beantworten: Hat die Person Puls? Atmet sie? Andere Fragen stellen wir den Verletzten direkt, um zu sehen, ob sie auf Anweisungen reagieren: Können Sie meine Hand drücken? Auf diese Weise nehmen wir eine sehr rasche Einschätzung der Patient:innen vor. Dabei ist es auch wichtig, dass die Abläufe und Aufgaben genau definiert sind. Eine farbliche Einteilung des Behandlungsbereiches hilft dabei. Gemeinsam mit den ukrainischen Verantwortlichen haben wir die Notaufnahme ein wenig umgebaut und nach Farben aufgeteilt: rot, gelb und grün. Wenn die Patient:innen ankommen, weisen wir sie den entsprechend markierten Bereichen zu: Rote, also kritische Patient:innen, bringen wir in den Schockraum, wo sie umgehend behandelt werden. Der gelbe Bereich bedeutet, hier ist rasche Hilfe nötig. Und grün heißt, diese Patient:innen können warten. „Triage“ nennt man dieses Sortieren nach medizinischer Dringlichkeit. 

Nach einem der ersten Trainings bedankte sich Yuri, ein Krankenpfleger, bei mir und meinte: „Das Training war wirklich hilfreich und praxisnah.“ Eine Woche später traf ich ihn wieder. Am Wochenende war ein militärischer Trainingsstützpunkt in der Nähe bombardiert worden. Ich sah die Besorgnis in Yuris Augen, als er sagte: „Ich hätte nicht gedacht, dass es so schnell gehen würde.“ Immer wieder hörten wir in diesen Tagen die Sirenen, die vor Luftangriffen warnten. Mehrmals mussten wir hinunter in den Schutzraum. Umso wichtiger war es – das war uns allen klar – dass wir Ärzt:innen und Pfleger:innen auf den Ernstfall vorbereitet haben. Unsere Hilfe macht einen Unterschied. Manchmal werde ich gefragt, warum ich Notarzt geworden bin. Ich wollte immer schon dort helfen, wo meine Arbeit einen existenziellen Unterschied macht. Für die Einsätze mit Ärzte ohne Grenzen gilt dies in besonderer Weise.