14.08.2023
Der EU-Tunesien-Deal, die Absicherung der EU-Außengrenzen, die Situation im Mittelmeer - Theorien, Lösungsversuche und viele Zahlen sind rund um den Kontext Migration präsent. Was häufig vergessen wird: dass hinter jeder Zahl ein Mensch, eine Persönlichkeit und Geschichte steckt.

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Unsere Teams erleben und hören in vielen unserer Einsätze, welchen Strapazen und wie viel Gewalt die Schutzsuchenden ausgesetzt sind. Wir unterstützen Menschen auf der Flucht unter anderem in der Stadt Ventimiglia im Nordwesten Italiens, die viele auf dem Weg nach Frankreich durchqueren. Dort treffen wir Joseph, seine Familie und Maite. Sie erzählen.

Joseph (33), Elfenbeinküste

"Wie kann man jemanden, der Hilfe braucht, so behandeln? Wir hoffen, dass die europäischen Länder den Menschen helfen, die Hilfe brauchen. Wenn sie es auch nicht tun, wissen wir nicht mehr, wohin wir sollen."

Joseph*, 33-year-old man from Côte d’Ivoire
MSF / Médecins Sans Frontiéres

Das Mittelmeer bedeutet entweder Leben oder Tod. Unsere Reise war sehr gefährlich – wir könnten auch tot sein. Zusammen mit meiner Frau und meinen Kindern haben wir uns trotzdem dazu entschieden, das Risiko einzugehen. Ich komme von der Elfenbeinküste und ich habe zwei Kinder. Eine acht Monate alte Tochter und einen zweijährigen Sohn. Meine Frau und ich haben sechs Jahre lang in Tunesien gelebt. Nach den rassistischen Aussagen des Präsidenten und der regelrechten Jagd auf Menschen aus westafrikanischen Ländern, mussten wir Tunesien wieder verlassen.

Die tunesische Polizei beschlagnahmte mein gesamtes Geld und sperrte mich in ein Gefängnis, obwohl ich kein Verbrechen begangen habe. Ich war 28 Tage in Haft und durfte während dieser Zeit nicht einmal meine Frau anrufen. Tunesien war kein sicherer Ort mehr für uns. Wir wurden aus unserer Wohnung geworfen und ich verlor meinen Job. Ich konnte nicht mit leeren Händen zurück zur Elfenbeinküste. Deshalb entschieden wir uns dazu, den Versuch zu wagen und über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen.

Wir benötigten zwei Versuche, um das Mittelmeer zu überqueren. Bei unserem ersten Versuch kehrten wir nach Tunesien zurück, nachdem ein anderes Boot vor uns kenterte. Von den 47 Menschen an Bord überlebten nur sechs. Beim zweiten Versuch waren wir 42 Menschen und wir legten ab bei Nacht. Viele Menschen fielen ins Wasser, auch meine Frau und meine Tochter. Vier Menschen starben dabei.

Die italienische Küstenwache rettete uns und brachte uns nach Lampedusa. Nun sind wir hier in Ventimiglia, weil wir nach Frankreich möchten. Wir haben die Grenze bereits einmal überquert, wurden aber in Menton (Frankreich) gestoppt. Die Polizei brachte uns auf eine Station und wir mussten die Nacht dort verbringen. Wir waren zusammengequetscht wie Sardinen. Nicht mal die Kinder hatten einen Raum, in dem sie hätten schlafen können. Es war dreckig und es gab keine Matratzen. Am nächsten Tag brachte uns die Polizei zurück nach Italien.

Wie kann man jemanden, der Hilfe braucht, so behandeln? Wir hoffen, dass die europäischen Länder den Menschen helfen, die Hilfe brauchen. Wenn sie es auch nicht tun, wissen wir nicht mehr, wohin wir sollen. Wir werden erneut versuchen, die Grenze zu überqueren. Nach so vielen Hindernissen, die wir überwunden haben, können wir jetzt nicht aufgeben.

Seien Sie Teil der Hilfe!

Maite (20), Guinea

Ich möchte etwas Gutes mit meinem Leben anfangen. 

Maïté*, 20-year-old woman from Guinea Conakry
MSF / Médecins Sans Frontiéres

Ich verließ Guinea vor vier Jahren. Nachdem meine beiden Eltern starben, lebte ich bei meiner Tante. Als ich 15 Jahre alt war erzählte sie mir, dass es Zeit wäre zu heiraten und dass sie einen Mann für mich gefunden habe. Mein Mann schlug mich jeden Tag. Er war gewalttätig und ich musste vier Mal in ein Spital wegen ihm. Vier Jahre vergingen und ich trage die Narben noch immer auf meinem Körper.

Ich konnte so nicht mehr leben. Deshalb entschied ich mich, vor diesem Leben zu flüchten. Als ich ging, war ich 16 Jahre alt und flüchtete durch Mali und Algerien. Es dauerte mehr als zwei Monate, die Wüste zu durchqueren. Meist hatten wir nicht genügend Essen oder Wasser.

Auf dem Weg von Mali nach Algerien sperrten mich die Schmuggler für zwei Wochen in ein verlassenes Gebäude in der Wüste. Sie wollten, dass ich mehr Geld bezahle, doch ich hatte niemanden, den ich hätte um Geld bitten können. Sie folterten mich, schlugen auf mich ein und liessen mich ohne Essen zurück. Schlussendlich liessen sie mich frei, doch kurz darauf wurde ich für eine Woche in ein anderes Gefängnis gesperrt.

Als ich es endlich nach Algerien schaffte, schickten mich bewaffnete Männer zurück in den Niger. Danach schaffte ich es endlich nach Algerien, doch das Leben war nicht einfach. Ich entschied mich, die Wüste von Algerien nach Tunesien zu durchqueren. Die Wüste musst du durchqueren, um nicht von der Polizei kontrolliert zu werden. Falls dich die Polizei in Algerien kontrolliert, schicken sie dich zurück in den Niger. Ich lief mit fünf anderen für eine Woche durch die Wüste. Wir liefen immer in der Nacht und suchten uns am Morgen einen sicheren Platz. Wasser und Kekse waren unser Essen, so kamen wir bis nach Tunesien.

In Tunesien verbrachte ich drei Jahre und arbeitet als Reinigungskraft in Restaurants, um Geld zu sparen für die Überfahrt nach Europa. Die Überquerung des Mittelmeers war sehr hart. Wir waren 45 Menschen auf einem acht Meter langen Boot. Wir verbrachten zwei Tage ohne Essen mitten im Meer, bevor uns ein Schiff rettete. Sie brachten uns nach Lampedusa und danach nach Sizilien. Von Sizilien aus entschied ich, dass ich nach Frankreich möchte.

Mit dem Zug reiste ich nach Ventimiglia. Ich möchte nach Frankreich und dort studieren. Ohne Bildung kommst du nirgendwo hin und ich möchte etwas Gutes mit meinem Leben anfangen.

Grundrechte wahren

Wir leisten seit vielen Jahren medizinische und humanitäre Hilfe für Schutzsuchende an den EU-Außengrenzen. Am Westbalkan, an der belarussischen Grenze mit Polen, am Mittelmeer und in Italien sowie in Griechenland: In ganz Europa erleben unsere Teams immer wieder, wie die Rechte von Menschen auf der Flucht gebrochen werden, diese mit teils massiver Gewalt an den Grenzen abgefangen und zurückgedrängt werden, ihnen humanitäre Hilfe verweigert wird, sie in ihrer Hoffnung auf Schutz kriminalisiert werden oder gar im Mittelmeer auf der Flucht ertrinken.   

Wir appellieren an Italien, Frankreich und andere europäische Länder, alle notwendigen Maßnahmen zu ergreifen, um die Menschen auf der Flucht vor weiteren Grundrechtsverletzungen zu schützen.