04.04.2024
Die Zeiten für humanitäre Hilfe haben sich geändert. Unser internationaler Präsident Christos Christou erklärt, wann Ärzte ohne Grenzen verhandeln muss und wie unsere Prinzipien dabei helfen.

Es ist ein heißer Morgen in Nigeria. Das Gebäude vor dem wir – eine Delegation von Ärzte ohne Grenzen – stehen, erinnert mich an das Pentagon in den USA. Es sieht hochsicher aus. Überall sind Wachen positioniert. Beim Hineingehen müssen wir unsere Mobiltelefone abgeben. Wir werden in einen einfachen, fensterlosen Raum geführt. 

Ich setze mich gegenüber vom Chef der nigerianischen Armee. Wir sind hier, um Zugang zu Konfliktgebieten in Nigeria zu erhalten, um medizinische Hilfe leisten zu können. Ich überlege, wie ich die Verhandlungen angehen soll: Trete ich als Politiker oder Diplomat auf?  

Christos Christou von Ärzte ohne Grenzen

Stattdessen entscheide ich mich dafür, als Arzt zu sprechen – der ich ja auch bin. Und ich weiß im selben Moment, dass dies die richtige Entscheidung ist.  

Diese Verhandlung in Nigeria liegt nun schon ein paar Jahre zurück. Es war eine meiner ersten als internationaler Präsident von Ärzte ohne Grenzen. Mittlerweile habe ich viele solcher Treffen hinter mir – meine Position, als Arzt in diese Gespräche zu gehen, habe ich beibehalten. Denn schließlich ist es das, was unsere Organisation ausmacht: Wir wollen Leben retten. 

Warum überhaupt verhandeln? 

Jetzt könnten Sie sich fragen: „Warum und mit wem verhandelt Ärzte ohne Grenzen überhaupt – solltet ihr nicht Leben retten?“  

Die Wahrheit ist: Um Menschen in Not überhaupt helfen zu können, brauchen wir Zugang zu ihnen. Und diesen Zugang zu bekommen, wird immer schwieriger.  

Die Zeiten für humanitäre Hilfe haben sich geändert. Das hat unterschiedliche Gründe: Staaten berufen sich zunehmend ihre Souveränität und möchten die humanitäre Hilfe nach ihren eigenen Vorstellungen lenken. In Konflikten verhindern gegnerische Parteien  aktiv Hilfsaktivitäten. In den letzten Jahren haben wir immer wieder gesehen, wie zum Beispiel Krankenhäuser angegriffen wurden. Teilweise wird versucht, humanitäre Hilfe zu kriminalisieren, so wie bei unseren Seenotrettungs-Einsätzen im Mittelmeer.  

Rotation 44 - Rescue 2
MSF/Mohamad Cheblak
Im Jahr 2023 sind über 3.700 Menschen im Mittelmeer ertrunken oder wurden als vermisst gemeldet. Das sind weit mehr Todesfälle als die Jahre zuvor.

Und da kommen Menschen wie ich ins Spiel: Wir leisten die Vorarbeit für unsere Hilfseinsätze. Wir sprechen mit politischen und militärischen Akteur:innen – allen Parteien in Krisen und Konflikten – und machen ihnen klar, warum wir Zugang zu den Menschen brauchen, die sonst keine Chance auf medizinische Hilfe haben. Bei diesen Verhandlungen helfen unsere drei wichtigsten Prinzipien enorm … 

… Unabhängigkeit, Neutralität und Überparteilichkeit

Jeder Mensch in Not hat das Recht auf Hilfe. Wir bevorzugen niemanden und unterstützen Menschen ungeachtet ihrer ethnischen Herkunft, ihres Geschlechts, politischer und religiöser Überzeugungen. Wir helfen der Person zuerst, die unsere Hilfe am dringendsten braucht.  

Wenn wir in Konfliktgebieten arbeiten, beziehen wir keine Stellung. Wir sind dort aktiv, wo die Menschen uns brauchen, häufig auf beiden Seiten eines Konflikts oder Krieges. In unseren Krankenhäusern kommt es vor, dass verfeindete Soldaten Bett an Bett liegen. Um zu helfen ist es wichtig, dass wir von allen beteiligten Akteur:innen respektiert werden.  

Eine Voraussetzung für unsere Arbeit ist die Unabhängigkeit von politischen und militärischen Akteur:innen . Wir entscheiden selbst, wo, wann und wie wir unsere Hilfe umsetzen. Die Unabhängigkeit garantieren wir, indem wir unsere Arbeit fast ausschließlich aus privaten Spenden finanzieren. 

Diese Prinzipien - Unabhängigkeit, Neutralität und Überparteilichkeit - begleiten uns seit über 50 Jahren – seit es Ärzte ohne Grenzen gibt. Sie definieren, wie wir arbeiten und helfen uns dabei Leben zu retten.  

Außerdem helfen sie uns dabei, Zugang zu Menschen in Not, zu verhandeln – wie damals in Nigeria. Unsere Prinzipien ermöglichen es uns , dorthin zu gelangen, wo andere nicht hinkönnen oder nicht hinwollen. 

Warum gerade jetzt?

Wir sind häufig die einzige medizinische Versorgung für Menschen in Krisen- und Konfliktgebieten. Gerade jetzt werden wir gebraucht. Das sehen wir in der Eskalation des Gazakriegs 2023 und 2024. Das sehen wir aber auch in Krisengebieten, die keine mediale Aufmerksamkeit bekommen –  wie im Sudan, wo der tobende Bürgerkrieg von der Weltöffentlichkeit vergessen scheint.

Malnutrition in Zamzam camp, North Darfur
Mohamed Zakaria
Wegen des Bürgerkriegs im Sudan steigt die Zahl der mangelernährten Kinder stark an. Das sind Nachrichten, die es kaum nach Europa schaffen.

Natürlich müssen wir auf neue Herausforderungen und Entwicklungen reagieren und unsere Arbeitsweisen immer wieder hinterfragen. Wir müssen als Organisation globaler werden. Wir müssen agiler werden, um auf Veränderungen schneller reagieren zu können. Wir brauchen neue kreative Lösungen, um uns Hindernissen und Herausforderungen zu stellen.  

Gleichzeitig müssen wir an unseren Prinzipien festhalten. Und wir dürfen nie vergessen, wer wir sind und was wir tun: Wir sind eine medizinische Nothilfe-Organisation. Wir retten Leben. 

Das war vor über 50 Jahren so. Das war so bei der Verhandlung in Nigeria. Das ist im Gazastreifen, in der Ukraine, im Sudan und unseren anderen Einsatzländern heute so. Und das muss auch in Zukunft so bleiben.