Welternährungstag: Ärzte ohne Grenzen warnt vor Krise in Nigeria

12.10.2022
Anlässlich des Welternährungstages am 16. Oktober weist Ärzte ohne Grenzen exemplarisch auf die besonders prekäre Lage im Nordwesten von Nigeria hin. „Unsere Alarmglocken schrillen“ sagt Einsatzleiter Simba Tirima.

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Anlässlich des Welternährungstages am 16. Oktober weist Ärzte ohne Grenzen exemplarisch auf die besonders prekäre Lage im Nordwesten von Nigeria hin. Simba Tirima, Einsatzleiter der medizinischen Nothilfeorganisation: „Unsere Alarmglocken schrillen.“
Auch in anderen Ländern nimmt Mangelernährung rapide zu.

Ärzte ohne Grenzen ist seit 2015 in den Bundesstaaten Sokoto, Zamfara und Katsina im Nordwesten Nigerias im Einsatz, um Mangelernährung zu bekämpfen. Heuer haben die Teams hier bis August in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium bereits fast 100.000 Patient:innen in 34 ambulanten Ernährungszentren und 10 stationären Einrichtungen für schwer mangelernährte Kinder behandelt. „Wir sind seit langem in dieser Region des Landes im Einsatz aber das, was wir in den letzten Monaten gesehen haben – dieser enorme Anstieg an Mangelernährung, in Zamfara etwa um über 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahr – ist für uns neu“, berichtet Froukje Pelsma, die für Ärzte ohne Grenzen als Einsatzleiterin in Nigeria tätig ist.
 
Die Teams von Ärzte ohne Grenzen bekämpfen in den weltweiten Einsatzländern die Folgen von Gewalt, Dürren oder Überschwemmungen und Epidemien. Sie beobachten, wie dadurch oftmals Ernährungskrisen zunehmen. Auch im Nordwesten Nigerias ist eine Vielzahl von Faktoren für die katastrophale Situation verantwortlich: Ein großer Teil der Bevölkerung ist hier wiederkehrend von Ernährungsunsicherheit betroffen. Dieser saisonale Mangel an Nahrungsmitteln wird als „Hunger Gap“ bezeichnet, der jährlich in der gesamten Sahelzone auftritt. Seit 2017/18 wird dieser Hunger Gap jedoch schlimmer, und 2022 kündigt sich eine Katastrophe an. Dies beruht auf einer Kombination von Gründen:

Preisspekulationen um Lebensmittel massiv in die Höhe getrieben 


„Mit der zunehmenden Gewalt und schlechten Sicherheitslage, die Menschen davon abhält, ihr Land zu bestellen, den klimatischen Veränderungen, die sich auf die Landwirtschaft auswirken, und der globalen Inflation der Lebensmittelpreise in Zeiten einer Pandemie, müssen wir befürchten, dass die Ernährungskrise sich weiter zuspitzt“, betont Simba Tirima, Arzt und Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen in Nigeria. „Die Preisspekulationen um Lebensmittel wurden während der Pandemie massiv in die Höhe getrieben. Ein Sack Reis etwa, der vor etwa zwei Jahren etwa 15.000 Naira gekostet hatte, liegt jetzt bei 40.000 Naira. Das führt dazu, dass sich manche Menschen schlicht einfach keine Nahrung mehr leisten können. Natürlich gab es immer schon Armut, aber was wir wieder jetzt beobachten, ist wirklich beispiellos.”
 
Ärzte ohne Grenzen hat die Hilfe ausgebaut. In Katsina etwa wurde das Ernährungszentrum von 100 auf über 500 Betten aufgestockt, um mehr Patient:innen zu behandeln. „Wir führen auch Erhebungen durch, um zu sehen, wie besorgniserregend die Situation ist“, betont Froukje Pelsma. „Und wir sehen, dass die Zahlen alarmierend sind. Dabei ist das sicher nur die Spitze des Eisberges.“
 
Die von Ärzte ohne Grenzen getätigten Erhebungen zur Ernährungssituation unterstreichen die Schwere der Krise – auch in Gebieten, die weniger von Gewalt und Unsicherheit betroffen sind. So stellte Ärzte ohne Grenzen im Verwaltungsbezirk Mashi im Bundesstaat Katsina im Juni zum Beispiel eine Rate von 27,4 Prozent akuter Mangelernährung und von 7,1 Prozent schwerer akuter Mangelernährung fest, obwohl die Gemeinde von Gewalt und Vertreibung relativ verschont geblieben ist. Die Datenlage weist auf eine massive Notsituation hin.
 
Die Teams von Ärzte ohne Grenzen versuchen, mit ambulanten Ernährungsprogrammen das Schlimmste zu verhindern. Besonders gefährdet sind Kinder, die zusätzlich erkranken, etwa an Masern oder Malaria. Froukje Pelsma: „Wir führen daher auch Masern-Impfkampagnen durch und setzen saisonal auf Malaria-Chemoprophylaxe, um Kinder, die aufgrund von Vertreibungen etwa Ernährungsunsicherheiten ausgesetzt sind, auch präventiv zu helfen.“
 
Die wachsenden Gesundheits- und Ernährungskrise im Nordwesten Nigerias wurde bisher von internationalen humanitären Interessengruppen und der Gebergemeinschaft weitgehend übersehen. Trotz der Dringlichkeit der aktuellen Situation und der düsteren Aussichten gilt der Nordwesten Nigerias als blinder Fleck der internationalen Hilfe. Die humanitäre Hilfe im Land konzentrierte sich bislang vor allem auf die ebenfalls kritische Situation in der Nordostregion, die Bundesstaaten Borno, Adamawa und Yobe, wo der anhaltende Konflikt mit Boko Haram herrscht.
 
Simba Tirima warnt: „Unsere Alarmglocken schrillen. Und es ist an der Zeit, dass andere Akteur:innen ebenfalls ihre Hilfe in der Region ausbauen. Auch als Ärzte ohne Grenzen weiten wir die Hilfe laufend aus und tun unser Bestes, aber der Bedarf ist enorm. Dabei sind jene, die zu uns kommen, ohnehin die Glücklichen – viele Menschen haben derzeit gar keinen Zugang zu lebensrettender Hilfe.“

Die Teams von Ärzte ohne Grenzen beobachten derzeit nicht nur in Nigeria sondern auch in Ländern im Osten Afrikas, im Nahen Osten oder auch in Asien besorgniserregend hohe Raten von Mangelernährung sowie Ausbrüche von Krankheiten. In vielen Regionen ist die Regenzeit drei oder vier Jahre in Folge ausgeblieben. Dürren sowie mancherorts auch Kämpfe und Gewalt treiben Menschen in die Flucht und berauben sie ihrer Lebensgrundlagen. Hunderttausende Menschen brauchen dringend mehr humanitäre Hilfe.
Große Besorgnis äußern die Mitarbeitenden von Ärzte ohne Grenzen etwa im Südsudan, Äthiopien, Somalia, in Afghanistan, Niger, dem Sudan oder in der Demokratischen Republik Kongo, aber auch im Libanon, in Syrien, Kenia, Madagaskar oder Sri Lanka.