Gaza: Bevölkerung im Belagerungszustand

14.07.2014
Intensität des israelischen Militäreinsatzes macht jede Bewegung für Bevölkerung gefährlich
Ein junger Patient wird in einer Klinik von Ärzte ohne Grenzen in Gaza post-operativ versorgt.
Chris Huby
Gaza-Stadt, Palästinensische Gebiete, 21.02.2014: Ein junger Patient wird in einer Klinik von Ärzte ohne Grenzen in Gaza-Stadt post-operativ versorgt.

Die Intensität der Bombardements beim israelischen Militäreinsatz „Fels in der Brandung“ im Gaza-Streifen macht jede Bewegung für die Bevölkerung und für die Teams von Ärzte ohne Grenzen extrem gefährlich. Bisher konnten die Krankenhäuser den Zustrom der Verletzten bewältigen. Doch diese neue Krise stellt eine zusätzliche Belastung für ein Gesundheitssystem dar, das ohnehin durch chronische Mängel geschwächt ist.

Die intensiven Angriffe – etwa zehn Bombardements pro Stunde – hindern die Teams von Ärzte ohne Grenzen nicht nur daran, die regulären medizinischen Aktivitäten fortzusetzen; sie halten sie auch davon ab zu evaluieren, wo die Bedürfnisse am größten sind. In nur zwei Tagen gab es mehr Luftangriffe als während des gesamten Militäreinsatzes im Jahr 2012.

„Raketen, die aus dem Gaza-Streifen abgefeuert werden, können Tel Aviv, Jerusalem und Haifa erreichen und sind eine reale Gefahr für die israelische Bevölkerung“, sagt Tommaso Fabbri, der Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen in den besetzten palästinensischen Gebieten. Bisher wurden auf israelischer Seite keine Toten verzeichnet.

Im Gaza-Streifen haben die Gesundheitsbehörden bis Sonntag um 16 Uhr 165 Tote verzeichnet – darunter 36 Kinder, 24 Frauen und neun ältere Personen. 1.232 Menschen wurden bei den Angriffen verletzt. In der Nacht auf Sonntag wurden bei einem einzigen Angriff 21 Mitglieder einer Familie getötet; am vergangenen Donnerstag starben beim Angriff auf ein Haus acht Menschen, darunter fünf Kinder.

„In den ersten paar Tagen wurden die Menschen per SMS gewarnt, wenn ein Angriff auf ihre Häuser bevorstand. Aber jetzt scheint das nicht mehr immer der Fall zu sein“, beklagt Nicolas Palarus, der Projektkoordinator von Ärzte ohne Grenzen im Gaza-Streifen.

Einsatz in Al-Shifa- und Nasser-Klinik

Am Sonntag besuchte ein Team von Ärzte ohne Grenzen das Al-Shifa-Krankenhaus in Gaza-Stadt. Dort wurden innerhalb von 24 Stunden 35 chirurgische Eingriffe durchgeführt. Trotz Hindernissen wurden am Sonntag auch in der Klinik von Ärzte ohne Grenzen fünf neue Patienten behandelt. Sie waren vom Al-Shifa-Krankenhaus zur post-operativen Behandlung ihrer Brandwunden überstellt worden. Um die Gesundheitsbehörden in Gaza zu unterstützen, hat Ärzte ohne Grenzen Notvorräte und Ersatzteile an das Nasser-Krankenhaus in Khan Younis und an die Zentralapotheke gespendet.

Die Patienten haben große Probleme, die Krankenhäuser zu erreichen. Dennoch schafften es am Donnerstag zwölf Patienten, die in der Nähe wohnten, in die Klinik von Ärzte ohne Grenzen zu kommen. Aber die meisten Patienten leben im Süden des Gaza-Streifens, wo sie für die Teams unerreichbar waren. Wegen Benzinknappheit kann nur die Hälfte der Rettungswagen betrieben werden.Mehrere Gesundheitseinrichtungen, darunter auch das „Europäische Krankenhaus“, wurden durch Einschläge in der Nähe beschädigt. Die Straßen von Gaza sind leer. Die Menschen verlassen ihre Häuser nur, wenn es unbedingt sein muss.

Mangel an Medikamenten und Material

„Es gibt nur fünf bis acht Stunden pro Tag Strom, das Wasser ist knapp und es ist schwierig, sich alles zu besorgen, was zum Leben notwendig ist“, so Palarus. „Der Alltag der Menschen ist wie ein Leben unter Belagerung. Bereits vor der neuen Gewalt mangelte es in den Krankenhäusern in Gaza an Medikamenten und medizinischem Material. Diese Krise schwächt ein bereits labiles System zusätzlich.“

Bisher litt der Großteil der stationären Patienten nicht an ernsthaften Verletzungen, doch nun steigt die Anzahl der Schwerverwundeten. Der dringendste Bedarf besteht momentan in der Notaufnahme. Auch die Intensivstationen und Operationssäle brauchen Unterstützung.

Dringend Evakuierung für Verletzte ermöglichen

Der Grenzübergang Rafah zwischen dem Gaza-Streifen und Ägypten war in den vergangenen Tagen nur gelegentlich für kurze Zeit geöffnet, wenn ein konkreter Anlass bestand. Am Donnerstag wurden nur elf Patienten nach Ägypten überwiesen, am Samstag vier. Allem Anschein nach dürfen nur Personen mit internationalem Pass die Grenzen passieren. Ein medizinisches Team aus verschiedenen arabischen Ländern wartet seit längerem erfolglos darauf, nach Gaza einzureisen.

„Es ist dringend notwendig, dass Verletzte und Kranke über die Grenzübergänge Rafah und Erez evakuiert werden können, und dass medizinische Teams und humanitäre Konvois einreisen dürfen“, erklärt Tommaso Fabbri. „Das ist eine rechtliche Verpflichtung Ägyptens und Israels, und es ist lebensnotwendig für die Bevölkerung in Gaza.“ Ärzte ohne Grenzen ist seit mehr als zehn Jahren in Gaza tätig. Die Klinik der Organisation in Gaza-Stadt hat sich auf post-operative Nachversorgung von Patienten mit Brandwunden durch Verbandwechsel und Physiotherapie spezialisiert. In Nasser-Krankenhaus in der Stadt Khan Younis organisiert Ärzte ohne Grenzen Trainings für die Teams in der Notaufnahme und führt spezielle Schulungen für Operationen an der Hand durch. Zwei chirurgische Teams der Organisation stehen bereit, um in den Gaza-Streifen einzureisen und die palästinensischen Krankenhäuser zu unterstützen.