World Mental Health Day: Mehr Menschen in psychologischer Behandlung seit Explosion in Beirut

09.10.2020
Anlässlich des World Mental Health Day am 10. Oktober: Zwei Monate nach der Explosion steigt der Bedarf an psychologischer Hilfe massiv.
World Mental Health Day Package-Lebanon
MSF/Tracy Makhlouf
One-on-one consultation between MSF psychiatrist and a patient.

Beirut, 10. Oktober 2020: Der Bedarf an psychologischer Hilfe hat in den zwei Monaten seit der Explosion in Beirut erheblich zugenommen. In den von der Explosion betroffenen Stadtteilen zeigen zwei von drei Personen, die psychologische Behandlungen bei Ärzte ohne Grenzen in Anspruch nehmen, Symptome im Zusammenhang mit Angstzuständen und Depressionen. Mehr als die Hälfte nennt die Explosion vom 4. August als Ursache. Von den Patientinnen und Patienten mit bereits zuvor bestehenden psychischen Erkrankungen geben 82 Prozent an, dass ihre Symptome seit der Explosion an Schwere zugenommen haben.

"Zwei Monate nach der Explosion steigt die Anzahl der Behandlungen", sagt die Psychologin Sara Tannouri von Ärzte ohne Grenzen im Libanon. "Obwohl inzwischen viele Menschen ihre körperlichen Wunden behandelt und ihre Grundbedürfnisse nach Wohnen, Strom und Wasser gedeckt haben, weinen viele nachts immer noch oder erschrecken durch das leiseste Geräusch."
Zu den Symptomen zählen Panikattacken, Schlaflosigkeit, Appetitlosigkeit, Vergesslichkeit, mangelnde Konzentration, Verlust des Interesses und negative Gedanken.

Unmittelbar nach der Explosion war die Angst vieler, dass es sich um einen israelischen Luftangriff auf Beirut handelte. Dies löste Panik bei vielen Menschen aus, die in der Vergangenheit bereits solche Luftangriffe erlebt hatten.

MSF/Tracy Makhlouf
Eingangstür zu einer medizinischen Station von Ärzte ohne Grenzen in Mar Mikhael, die nach der Explosion in Beirut eingerichtet wurde.

Kollektive Überforderung der Gesellschaft

Da die Krankenhäuser in der Stadt nach der Explosion am 4. August schnell überfüllt waren, mussten einige der Verwundeten stundenlang laufen, um andere medizinische Einrichtungen zu erreichen. Dadurch wurde ihnen das volle Ausmaß des Schadens bewusst: Menschen, die unter Trümmern gefangen waren, und Straßen, die gefüllt waren mit Toten und Verwundeten.
Eine 70-jährige Frau, die ihr Augenlicht verlor, nachdem sie während der Explosion von Trümmern getroffen worden war, wünscht sich jetzt dass sie gestorben wäre. "Sie sagt immer wieder, dass sie in der Explosion hätte sterben sollen, anstatt der jungen Männer und Frauen, die ihr Leben verloren haben", so Tannouri von Ärzte ohne Grenzen.

Zu den Symptomen bei Kindern, die von Ärzte ohne Grenzen behandelt werden, gehören erhöhte körperliche und verbale Aggression und Bettnässen. Auch viele ältere Kinder haben Angst, alleine zu sein, und bestehen darauf, mit Licht oder im Bett ihrer Eltern zu schlafen.
"Einige Kinder tragen jetzt Verantwortung über ihr Alter hinaus", sagt Tannouri. "Ein kleiner Junge musste seinen Vater anrufen, um seine Mutter zu retten, die unter einer eingestürzten Mauer gefangen war." Eine andere junge Patientin wurde von Schuldgefühlen überwältigt, nachdem ihre Schwester verletzt worden war, während sie unverletzt blieb. Zwei andere junge Patienten weigern sich aus Angst vor einem ähnlichen Vorfall das Haus zu verlassen.

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Tannouri glaubt, dass die Zunahme von Menschen in psychologischer Behandlung auch damit zusammenhängt, dass sie sich nicht mehr auf die Unterstützung von Familienmitgliedern und Freunden verlassen können. Diese sind selbst mit der Situation im Libanon überfordert.
„Vor der Explosion waren in Beirut die Gesellschaft und die informellen Netzwerke - Familie, Freunde und Nachbarn - der erste Anlaufstelle für Unterstützung bei Betroffenen“, sagt sie. "Heute sind diese Netzwerke alle gleichermaßen betroffen, und die Menschen wenden sich an Spezialistinnen und Spezialisten."

"Normale Reaktion auf außergewöhnliche Ereignisse"

"Was die Menschen heute durchmachen, ist eine normale Reaktion auf außergewöhnliche Ereignisse", betont Tannouri. "Wir müssen anfangen, das, was im Land vor sich geht, mit dem psychischen Wohlbefinden der Menschen zu verknüpfen. Aus Sicht der psychischen Gesundheit brauchen Menschen eine Aufarbeitung schlimmer Ereignisse, bevor sie weitermachen können. Leider hören wir oft von Patientinnen und Patienten, dass es keinen konkreten Plan zur Aufarbeitung gäbe, um mit den Auswirkungen des Vorfalls umzugehen. Die Dinge laufen so, als ob nichts passiert wäre. Das ist nicht gut für die psychische Gesundheit der Menschen, da es Gefühle der Hoffnungslosigkeit und Hilflosigkeit aufrechterhält.“

Zugang zu psychologischer Hilfe für alle 

Um die Lücken in der psychologischen Versorgung im Land zu schließen, befindet sich Ärzte ohne Grenzen derzeit in Gesprächen mit dem nationalen Programm für psychische Gesundheit im Libanon, das Teil des Gesundheitsministeriums ist. Ziel ist es, die Unterstützung von Ärzte ohne Grenzen in den nationalen Gesundheitsplan zu integrieren und eine langfristige Strategie zu entwickeln, die dem steigenden Bedarf gerecht wird.

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MSF/Tracy Makhlouf
Zurück zum Alltag? Zugang zu psychologischer Hilfe für alle Menschen ist wichtig, um die Ereignisse rund um den 4. August zu verarbeiten.

"Die Explosion an sich ist ein traumatischer Vorfall, der kurzfristig akute psychologische Folgen hat", sagt Tannouri. "Aber wenn diese unbehandelt bleiben, können sie das psychische Wohlbefinden der Menschen langfristig beeinträchtigen. Wir müssen die psychische Gesundheit als integralen Bestandteil des Wohlbefindens eines Menschen betrachten. Auch wenn die psychologische Versorgung ein Spezialgebiet ist, muss sie Teil eines umfassenden Versorgungspakets werden, das Menschen im gesamten Libanon zugänglich ist.“

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MSF/Tracy Makhlouf
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