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„Wenn es Hemayat nicht geben würde, würde niemand merken, ob ich noch lebe oder nicht.“
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Die Psychologin Dr. Nora Ramirez Castillo arbeitet seit sechs Jahren bei Hemayat, einem Betreuungszentrum für Überlebende von Krieg und Folter in Wien, das seit 2016 von Ärzte ohne Grenzen unterstützt wird. Im Interview berichtet sie von ihrer Arbeit mit traumatisierten Geflüchteten. Ihr Fazit: Im Bereich der psychosozialen Hilfe für die Betroffenen besteht weiterhin Handlungsbedarf.
Viele Menschen, die nach Europa geflohen sind und Schutz in Österreich gefunden haben, sind traumatisiert. Worunter leiden die Betroffenen?
Die Menschen leiden unter Schlafstörungen und Albträumen. Sie haben Flash-Backs. Oft sind es Alltagssituationen, die diese Erinnerungen auslösen, z.B. Menschen in Uniform. Das geht auch einher mit einer erhöhten Schreckhaftigkeit: Die Menschen sind oft sehr ängstlich, regen sich schnell auf, können sich schwer wieder beruhigen und neigen zu Konzentrationsstörungen. Das sind typische Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung - der häufigsten Traumafolgestörung. Viele, die zu uns kommen, leiden an Depressionen, weil sie sehr viel verloren haben – Familienmitglieder, Heimat, Sprache, Kultur. Die Bandbreite an dem, was die Menschen an Symptomen präsentieren, ist sehr groß. Das Erleben ist immer sehr individuell.
Wie wirkt sich das Trauma konkret auf ihren Alltag in Österreich aus. Mit welchen Schwierigkeiten sind die Betroffenen konfrontiert?
Das kann sich so auswirken, dass die Betroffenen auf Grund von Ängsten Situationen meiden, die sie mit den traumatischen Erfahrungen in Verbindung bringen, z.B. Plätze, an denen sich viele Menschen aufhalten. Diese Ängste können sich so generalisieren, dass sich Patienten und Patientinnen nicht mehr trauen, außer Haus zu gehen. Menschen mit Krieg- und Foltererfahrung, denen Gewalt angetan wurde, entwickeln ein sehr großes Misstrauen.
Warum ist es so wichtig, dass die Menschen, die Traumatisches erlebt haben, zeitnah behandelt werden?
Weil sich die Symptome, die die Menschen haben, sonst chronifizieren und immer schlimmer werden. Wenn so lange Zeit bis zur Behandlung vergeht, dann ist es schwierig, sich hier in Österreich zu integrieren, die Menschen kennenzulernen, die Sprache zu lernen.
Wie hilft Hemayat konkret? Wie unterstützt der Verein Überlebende von Krieg und Folter?
Wenn sich jemand bei uns anmeldet, gibt es am Anfang das Abklärungsgespräch. Leider gibt es lange Wartezeiten für die Psychotherapie. Das Hauptangebot ist die Einzelpsychotherapie. Oft werden Erlebnisse thematisiert, die sehr schambesetzt sind z.B. sexuelle Gewalt. In einer Gruppe würde man solche Traumatisierungen nicht ansprechen, weil das andere Gruppenmitglieder retraumatisieren könnte.
Und über welchen Zeitraum erstrecken sich die Therapieangebote?
Sehr unterschiedlich und individuell. Ein Mann ist bei uns im Büro zusammengebrochen, weil sich seine Familie genau in dem Moment in einer Stadt in Syrien befand, die bombardiert wurde. Das heißt auch, dass die traumatische Situation nicht vorbei ist. Da können wir nichts Vergangenes aufarbeiten, da können wir nur die Situation und den Prozess begleiten. Es gibt Fälle, da stabilisiert sich jemand innerhalb von einigen Therapie-Stunden und probiert, selbst klarzukommen – aber es gibt auch Prozesse, die Jahre dauern.
Was sind Ihre größten Erfolgserlebnisse in der Zusammenarbeit mit den Betroffenen? Gab es auch Momente, bei denen Sie an Ihre Grenzen gestoßen sind?
An meine Grenzen bin ich sicherlich einige Male gestoßen. Mir fällt sofort eine junge Frau aus Afghanistan ein, die dann wieder in ihre Heimat abgeschoben wurde. Da weiß man, der Frau droht dort alles Mögliche, man kann aber nichts tun. Es gibt natürlich auch positive Momente, etwa als ein Patient nach einem halben Jahr Therapie das erste Mal wieder gelacht hat. Jetzt gerade habe ich einen anderen Patienten, der auf Jobsuche ist und dem es endlich gelungen ist, aus dem Heim auszuziehen und eine Wohnung zu finden. Da merkt man: Wir haben jetzt zwei Jahre daran gearbeitet, und jetzt auf einmal wird’s.
Welches Feedback bekommt Hemayat von Patienten und Patientinnen?
Einmal hat eine Patientin gesagt: „Wenn es Hemayat nicht geben würde, würde niemand merken, ob ich noch lebe oder nicht.“ Sie hat gesagt, dass Hemayat ihre Heimat ist. Da sieht man auch diese Vereinsamung, die es oft gibt. Wo wir dann die einzige Stütze sind, die noch da ist.
Seit 2016 unterstützt Ärzte ohne Grenzen den Verein Hemayat. Was hat diese Zusammenarbeit konkret bewirkt?
Für uns war besonders wichtig, die Finanzen zu haben, um zusätzliche Räume anmieten und mehr Personal beschäftigen zu können - also sowohl Psychotherapeuten und Psychotherapeutinnen als auch Dolmetscher und Dolmetscherinnen. Ich möchte nicht wissen, wie unsere Wartelisten jetzt ausschauen würden, hätten wir nicht die Möglichkeit gehabt, mehr zu arbeiten. Das ist sicher ein großer Erfolg, der durch diese Kooperation zu Stande kam. Es gibt aber auch auf anderen Ebenen einen wichtigen Austausch.
Der Bedarf an therapeutischer Unterstützung für Geflüchtete steigt weiterhin. Immer mehr traumatisierte Menschen suchen das Behandlungszentrum auf. Bei Hemayat stehen aktuell 478 Menschen auf der Warteliste. Wie gehen Sie mit dieser großen Anfrage um?
Obwohl wir dieses Jahr 53 Prozent mehr Betreuungsstunden als im Vorjahreszeitraum geleistet haben, ist es tatsächlich so, dass wir so viele Anmeldungen kriegen, dass wir einfach nicht hinterherkommen. Wir überlegen uns natürlich Strategien, z.B. ob wir noch eine zweite Person für die Abklärungsgespräche anstellen, damit wir diese rasch anbieten können und zumindest eine Basisversorgung in die Wege leiten können.
Angebot und Nachfrage der psychosozialen Hilfe für Geflüchtete in Österreich: Wo sehen Sie noch Handlungsbedarf?
Österreichweit fehlt es an Dolmetschern und Dolmetscherinnen im Gesundheits- und Sozialsystem. Manche Patienten kommen mit einem Stapel an Befunden, aber niemand hat ein vernünftiges Anamnesegespräch mit ihnen geführt. Dann gibt es noch Defizite in der psychosozialen Begleitung, vor allem unbegleitete minderjährige Flüchtlinge benötigen mehr pädagogische Angebote. Etwa traumapädagogisch ausgebildete Betreuer und Betreuerinnen an Schulen. Es gibt auch einen großen Bedarf an Sozialarbeit. Speziell in Wien ist die Frage nach Wohnraum ein großes Thema.
Abschließend die Frage: Was möchtet Hemayat mit seiner Arbeit bewirken. Was sind die Ziele des Vereins?
Unser Hauptziel ist es, schwer traumatisierten Menschen dabei zu helfen, sich zu stabilisieren, hier in Österreich Fuß und neue Hoffnung zu fassen und ein neues Leben zu beginnen. Ein weiteres Anliegen ist es, die Öffentlichkeit ein Stück weit zu sensibilisieren für das, was Geflüchtete brauchen und was es bedeutet, traumatisiert zu sein.
Was ist dein persönliches Anliegen?
Mein persönliches Anliegen ist es, den Menschen die bestmögliche Therapie zu bieten. Die große Hoffnung ist die, dass wir dahin kommen, schnellere Behandlung anbieten können.
Seit Dezember 2016 unterstützt Ärzte ohne Grenzen Hemayat. Erfahren Sie mehr über die Zusammenarbeit:
Psychologische Hilfe für Geflüchtete