Ungewisse Lage für Familien im Nordirak ein Jahr nach der Flucht

05.08.2015
Vor einem Jahr machte das Sindschar-Gebirge im Nordirak Schlagzeilen, weil dorthin Tausende von Menschen vor bewaffneten Gruppen flohen. Lesen Sie hier, wie es den Menschen geht und welche Hilfe wir für sie leisten.
Iraq - One year after the Sinjar exodus
Lucia Brinzanik/MSF
Zakho, Irak, 29.07.2015: Hadji Charmeed lebt mit seiner Familie in einer der Rohbauten nahe der Stadt Zakho. Dort suchen rund 700 Familien Zuflucht, nachdem sie vor einem Jahr voder Gewalt in Sindschar fliehen mussten.

Vor einem Jahr machte das Sindschar-Gebirge im Nordirak Schlagzeilen, weil dorthin Tausende von Menschen vor bewaffneten Gruppen flohen. Die Familie von Hadji Charmeed musste damals eine schwerwiegende Entscheidung treffen, denn Hadji hat einen teilamputierten Fuss. "Meine Familie wollte mich nicht zurücklassen, sondern entschied, dass wir alle zusammenbleiben sollten." Nach mehreren Monaten in Gefangenschaft schafften sie es schließlich, in den Norden des irakischen Kurdistans zu fliehen. Sämtlichen Besitz mussten sie zurücklassen. Nun hausen sie wie viele andere in einem der unfertigen Neubauten unweit der Stadt Zakho.

Lesen Sie hier, wie es den Menschen geht und welche Hilfe wir für sie leisten.

 „Wegen einer alten Kriegsverletzung bin ich gehbehindert, sagt Hadji und zeigt auf seinen teilamputierten Fuss. Als im vergangenen Jahr bewaffnete Gruppen den Bezirk Sindschar im irakischen Gouvernement Ninawa angriffen,  flüchteten viele Einwohner ins Sindschar-Gebirge. Andere, darunter Hadji, wurden gefangen genommen. Nach mehreren Monaten in Gefangenschaft schafften es Hadji und ein Teil seiner Familie schließlich, in den Norden des irakischen Kurdistans zu fliehen, und leben seither unweit der Stadt Zakho. Bei ihrer Ankunft waren sie völlig mittellos.

Mobile Kliniken für Vertriebene

Rund 700 Familien - mit je mindestens sechs Mitgliedern - leben in dieser Gegend in unfertigen Häusern und Rohbauten mehrstöckiger Wohnblocks. Die Lebensbedingungen in den unfertigen Neubauten sind hart. Die meisten dieser Betongebäude haben weder Fenster noch Türen. Sie bieten keinen Schutz vor der Witterung, weder vor der Kälte und Feuchtigkeit im Winter noch vor der Hitze im Sommer, wenn das Thermometer bis auf 50 Grad Celsius ansteigen kann. Strom gibt es nicht, und der Zugang zu Wasser ist schwierig. Die prekären Lebensumstände in den Rohbauten greifen ihre Gesundheit an.

Seit August 2014 betreiben wir mobile Kliniken in der Umgebung von Zakho. Von Januar bis Juni 2015 führten unsere medizinischen Teams fast 16.000 Untersuchungen durch. „Bei zehn Prozent unserer Patienten sind die Beschwerden psychosomatischer Natur – ein sehr hoher Anteil“, sagt Jalal Alyas, einer unserer Krankenpfleger. „Vierzig Prozent der Patienten leiden an chronischen Krankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck. Die übrigen haben Virus- und Atemwegsinfekte sowie Durchfall- und Hauterkrankungen wie Krätze.“ Besonders die letztgenannten Krankheiten sind eine direkte Folge der schlechten Lebensbedingungen. Aufgrund mangelnder Hygiene leiden viele auch unter Abszessen und infizierten Wunden.

Keine Besserung der Lebensbedingungen

Ein Jahr nach ihrer Vertreibung befinden sich die Familien noch in der gleichen prekären Situation wie zum Zeitpunkt ihrer Ankunft. Die Lebensbedingungen haben sich nicht verbessert und ihre Zukunft bleibt völlig ungewiss, da sie nicht nach Hause zurückkehren können. Zum Teil werden sie von Hausbesitzern unter Druck gesetzt, die ihr Eigentum zurückfordern. Die Flüchtlingslager sind voll, und die finanziellen Mittel für Hilfsmaßnahmen nehmen ab. „Viele Familien sind auf Hilfe angewiesen und leben in den Rohbauten unter furchtbaren Bedingungen. Das Interesse der Geberländer und Organisationen lässt nach. Vertriebene, die außerhalb der Lager leben, werden nach wie vor vernachlässigt“, hält unsere Einsatzleiterin Caroline Voûte fest.

Auch Farhan Khala lebt unter ungewissen Bedingungen in einer Wohnung eines mehrstöckigen Betonrohbaus bei Zakho. Wie die meisten vertriebenen Menschen hat er nur einen einzigen Wunsch: „Ich möchte einen sicheren Ort für meine Familie finden, damit wir wieder alle zusammenleben können. Dafür würden wir alles geben, was uns noch geblieben ist“, sagt er.

Die Eskalation des Konflikts hat dazu geführt, dass seit Januar 2014 nach offiziellen Angaben mehr als drei Millionen Menschen innerhalb des Landes vertrieben wurden.

Die Hilfe von Ärzte ohne Grenzen

Wir unterstützen bedürftige Menschen, die aus den Gouvernements Anbar, Salah ad-Din und später Ninawa geflohen sind. Unsere Teams leisten medizinische Versorgung in verschiedenen Regionen des Landes. Sie organisieren die Wasser- und Abwasserversorgung und verteilen Decken und andere Hilfsgüter. Seit Januar 2015 haben unsere Teams fast 55.600 Sprechstunden bei den vertriebenen Irakerinnen und Irakern abgehalten.

Wir sind seit 2006 in verschiedenen Gebieten im Norden und Süden des Irak tätig. Um unsere Unabhängigkeit sicherzustellen, nehmen wir für unsere Programme im Irak keinerlei finanzielle Mittel von Regierungen, religiösen Einrichtungen oder Geldgebern an. Vielmehr finanzieren wir unsere Aktivitäten ausschließlich aus private Spenden. Zurzeit sind mehr als 300 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen von uns im Irak tätig.