Ost-Ghuta: Die Stimme aus dem Krankenhauskeller

16.03.2018
"Die meisten Menschen in Ost-Ghuta leben im Untergrund. Die medizinische Versorgung erfolgt zunehmen in Kellern. Was dort geschieht, ist bei Tageslicht kaum zu ertragen." Eine Leiterin des Krankenhauses berichtet über die katastrophalen Zustände.
MSF HOSPITAL, IDLIB Region, SYRIA
Robin Meldrum/MSF
An inflatable operating theatre is erected inside this MSF makeshift hospital in Syria (a converted chicken farm) as it is an efficient way to maintain a sterile environment. Surgeon Steve Rubin operating.
Meinie Nicolai ist Krankenschwester und Geschäftsführerin von Ärzte ohne Grenzen im Einsatzzentrum Brüssel. Kürzlich sprach sie mit einer der Leiterinnen eines Krankenhauses in Ost-Ghuta, das wir seit 2003 unterstützen. Die meisten Menschen dort leben im Untergrund. Die medizinische Versorgung erfolgt zunehmend in Kellern. Was dort geschieht, ist bei Tageslicht kaum erträglich. Lesen Sie hier den Bericht:   Diese junge, selbstbewusste Ärztin erklärte, dass die letzten fünf Jahre der Belagerung mit immer wiederkehrenden Bombenangriffen sehr schwierig waren – jedoch nichts im Vergleich zum letzten Monat. Sie konnte kaum Worte finden, um die Situation zu beschreiben. Das Krankenhaus wurde aus einem fünfstöckigen Gebäude umgebaut, aber derzeit können sie nur noch den Keller benutzen, da er im Falle eines Granaten- oder Bombenangriffs einen gewissen Schutz bietet.  

Ein Bombenanschlag am Vortag: 7 Tote und 30 Verwundete wurden eingeliefert

In ihrem Keller haben sie mehrere Operationssäle eingerichtet, jedoch liegt die nächste Intensivstation mehrere Kilometer entfernt und die Benutzung der Straße ist zu gefährlich. Die Ärztin erzählte mir von einem Bombenanschlag in der Nähe des Krankenhauses, der am Vortag stattfand: Sieben Tote, darunter drei Kinder, und 30 verwundete Patienten und Patientinnen wurden eingeliefert.    Bei unserem Gespräch war sie völlig erschöpft. Sie und ihre Kollegen und Kolleginnen hatten in den letzten 24 Stunden 17 große chirurgische Eingriffe durchgeführt - einschließlich allgemeiner, orthopädischer und vaskulärer Operationen – und das mit begrenzter Ausrüstung und Material. Ich erkundigte mich nach dem Gesundheitszustand der Patienten und Patientinnen, und sie berichtete mir, dass eine Person verstorben sei. Aber es gab auch eine gute Nachricht: 16 Patienten und Patientinnen waren stabil.   Sie erzählte mir auch, dass Bluttransfusionen eines der größten Probleme darstellen. Die zentrale Blutbank ist zwar nur sieben Kilometer entfernt, aber aufgrund der Bombenangriffe und des Beschusses könnten es auch 70 Kilometer sein. Es ist derzeit unmöglich, dorthin zu gelangen. Im  Krankenhaus kann die Ärztin nur die grundlegendsten Kontrollen vor den Transfusionen durchführen. Hinzu kommt, dass die Blutbeutel ausgehen.   Die meisten Menschen haben sich in unterirdischen Kellern oder provisorischen Bunkern niedergelassen – in geschlossenen Räumen mit extrem ungesunden Lebensbedingungen. Die Ärztin sagte, dass sie die normalen Behandlungen auf ein Minimum reduzieren müsse, um noch genügend Kapazitäten für die kritischen Fälle zur Verfügung zu haben.  

Zu Beginn der Offensive kamen täglich 70 Tote und 300 Verletzte

Dieser Kampf und seine Auswirkungen sind extrem. Während der ersten zwei Wochen der Offensive wurden jeden Tag mehr als 300 Verletzte und mehr als 70 Tote in die von Ärzte ohne Grenzen unterstützten Einrichtungen gebracht. Tag für Tag. 15 Einrichtungen, die Ärzte ohne Grenzen in der Region unterstützt, wurden von Bomben oder Granaten getroffen. Vier der Sanitäter, mit denen wir gearbeitet haben, wurden getötet und bisher 20  verletzt.   Während die Realität des Krieges klar scheint, sind einige Details unklar. Aber alles deutet darauf hin, dass der Konflikt nicht nur groß ist, sondern der Krieg auch sehr schmutzig geführt wird. Wir können die Angaben der Patienten und Patientinnen mit Atemschwierigkeiten und Symptomen, die auf die Einwirkung chemischer Substanzen hindeuten, nicht verifizieren. Genauso wenig wie die Geschichten der Patienten und Patientinnen mit Schussverletzungen, die behaupten, dass Scharfschützen in dem von der Opposition kontrollierten Gebiet auf sie gezielt haben.   

Die Zivilisten dürfen keine Ziele militärischer Strategien sein

Was wir tun können, ist weiterhin zu versuchen, die bestmögliche Nutzung unserer verbleibenden medizinischen Vorräte in der Enklave sicherzustellen, auch wenn diese jeden Tag mehr aufgebraucht werden. Und wir können unsere Forderungen gegenüber den Kriegsparteien und ihren Anhängern wiederholen, die in Ost-Ghuta eingeschlossenen Zivilisten weder als legitime Ziele noch als entbehrliche Objekte in der Verfolgung militärischer Siege zu sehen. Sie sollten weder als Pfand der Oppositionsgruppen noch als Rechtfertigung für die Militäraktion der syrisch-geführten Koalition eingesetzt werden.   Als die Ärztin sich darauf vorbereitete, zu ihren Patienten und Patientinnen zurückzukehren, fasste sie die Situation als äußerst kritisch zusammen. Ihr Team ist erschöpft und hat Schwierigkeiten zu schlafen, weil es entweder durch die Kampfhandlungen oder einen Massenansturm von Kriegsverletzten aufgeweckt wird. Alle Teammitglieder haben abgenommen, weil sie nur wenig oder oft gar nichts essen. „Das muss aufhören", sagte sie. „Wir können nicht weiter Kinder sterben sehen."   Diese Ärzte und Ärztinnen und die Pflegekräfte sind am Ende, aber sie machen ihre Arbeit immer noch so gut sie können. Dies sollte uns alle demütig machen. Mir fehlen die Worte, und mir bleibt nur noch die klare Botschaft zu wiederholen, die ich aus der Dunkelheit und der Angst des Krankenhauskellers vernommen habe: „Das muss aufhören.“