Offener Brief von Ärzte ohne Grenzen: EU-Regierungen unterstützen das Geschäft mit dem Leid in Libyen

07.09.2017
Offener Brief an die österreichische Bundesregierung. Wir fordern die Freilassung willkürlich inhaftierter Flüchtlinge sowie Migranten und Migrantinnen.
Dr. Joanne Liu
Natacha Buhler/MSF
Dr. Joanne Liu hat vor Kurzem ein Internierungslager in Tripolis besucht. Angesichts der unmenschlichen Zustände vor Ort fordert die internationale Präsidentin von Ärzte ohne Grenzen in einem offenen Brief die Freilassung willkürlich festgehaltener Flüchtlinge sowie Migranten und Migrantinnen.

Offener Brief an die österreichische Bundesregierung

Was Flüchtlinge und Migranten derzeit in Libyen durchleben ist schockierend – diese Tatsache sollte den Bürgern und Bürgerinnen Europas und ihrer demokratisch gewählten Führung nicht vorenthalten bleiben. Deshalb wende ich mich heute in diesem Schreiben an Sie, wie auch an weitere politische Entscheidungsträger in ganz Europa.   Getrieben vom Ziel, Flüchtlinge von Europa fernzuhalten, werden derzeit europäische Gelder eingesetzt, um Flüchtlingsboote am Auslaufen aus libyschen Gewässern zu hindern. Durch diese Politik wird jedoch gleichzeitig ein kriminelles System der Misshandlung und Ausbeutung unterstützt. Es ist grausam, Migranten und Flüchtende in Libyen einzusperren. Man muss das Kind beim Namen nennen: In Libyen wird ein florierendes Geschäft mit Entführungen, Folter und Erpressung betrieben. Dennoch haben die EU-Regierungen die bewusste Entscheidung getroffen, Menschen unter genau diesen Bedingungen festhalten zu lassen.   Wir sagen: Niemand sollte nach Libyen zurückgeschickt oder dort willkürlich inhaftiert werden. Ärzte ohne Grenzen kümmert sich seit über einem Jahr um Menschen, die in Internierungszentren in Tripolis eingesperrt sind. Unsere Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen erleben selbst mit, wie Männer, Frauen und Kinder willkürlich inhaftiert, erpresst, misshandelt und ihrer grundlegenden Rechte beraubt werden.   Ich habe vergangene Woche mehrere offizielle Internierungszentren besucht – wir wissen, dass diese offiziellen Lager nur die Spitze des Eisberges sind. Menschen werden dort wie Ware behandelt, wie Dinge, die man beliebig ausbeuten kann. Sie werden wie Tiere in dunkle, schmutzige und stickige Räume gepfercht. Betroffene berichteten uns wie sie gezwungen werden, nackt im Hof herumzulaufen, bis sie vor Erschöpfung zusammenbrechen. Frauen werden vergewaltigt und dann dazu gezwungen, ihre Familien anzurufen und um Geld zu bitten, damit sie freikommen. Alle Menschen, mit denen ich geredet habe, fragten mich mit Tränen in den Augen, wann sie denn endlich freigelassen würden. Ihre Verzweiflung war überwältigend.   Die sinkenden Zahlen der Menschen, die es schaffen, Libyen zu verlassen, werden von manchen als Erfolg im Kampf gegen das Sterben im Mittelmeer und gegen organisierte Schlepperbanden gelobt. Wenn man aber weiß, was derzeit in Libyen passiert, handelt es sich dabei bestenfalls um Heuchelei – und schlimmstenfalls um zynische Mittäterschaft am organisierten Menschenhandel. Wer auch immer gezwungen ist, unter diesen entsetzlichen Bedingungen zu leben, braucht einen Ausweg. Diese Menschen brauchen Schutz, Asyl und verstärkte Rückführungen. Sie brauchen sichere und legale Wege, um sich vor der Gewalt in Sicherheit bringen zu können. Doch bis dato hat nur ein Bruchteil der Menschen Zugang zu dieser Option.   Die grausame Gewalt gegen die Inhaftierten in Libyen muss aufhören. Ihre Menschenrechte müssen gewahrt werden, und sie brauchen ausreichend Nahrung, Wasser sowie die nötige medizinische Versorgung. Doch auf Erklärungen der EU-Regierungen, wonach die unmittelbaren Lebensbedingungen dieser Menschen verbessert werden sollen, sind bisher keine konkreten Taten gefolgt. Statt den Teufelskreis zu durchbrechen, den politische Entscheidungsträger ihrem eigenen Kurs zu verdanken haben, versteckt man sich hinter haltlosen Anschuldigungen gegenüber NGOs und Privatpersonen, die versuchen, verzweifelten Menschen zu helfen. Bei den Such- und Rettungsaktionen auf See wurde Ärzte ohne Grenzen von der libyschen Küstenwache (die von Europa finanziert wird) attackiert und wiederholt der geheimen Absprache mit Schleppern bezichtigt. Doch wer kooperiert hier mit Kriminellen? Jene, die versuchen, Menschenleben zu retten, oder jene, die ermöglichen, dass Menschen wie Ware weggesperrt und verkauft werden?   Libyen ist nur das jüngste und extremste Beispiel einer langjährigen europäischen Migrationspolitik, die zum Ziel hat, Flüchtende außer Sichtweite zu halten. Das EU-Türkei-Abkommen von 2016, die Hotspots in Griechenland, die Lager in Frankreich, die Schließung der Balkanroute – all das sind Etappen einer um sich greifenden Tendenz der Abschottung und Zurückweisung an den Grenzen.   Das Resultat: Flüchtenden, die auf sicheren und legalen Wegen nach Europa kommen möchten, wird ebendiese Option versperrt. Sie werden immer tiefer in die Abhängigkeit von Schleppern getrieben – jenen Netzwerken also, die europäischen Politiker vorgeben sprengen zu wollen. Will man Schleppern und Menschenhändlern wirklich den Wind aus den Segeln nehmen, führt kein Weg um die Schaffung legaler und sicherer Möglichkeiten zur Grenzüberquerung herum; sie ermöglichen den Staaten gleichzeitig, die Kontrolle ihrer Grenzen effektiv umzusetzen.   Niemand kann jetzt noch behaupten, er oder sie hätte nicht gewusst, was in Libyen vor sich geht. Die Profitmacherei mit der Armut und dem entsetzlichen Leid der Gefangenen muss sofort enden. Oder sind Vergewaltigungen, Folter und Versklavung wirklich der Preis, den die europäischen Staaten zahlen wollen, um den Flüchtlingsstrom zu drosseln?   Dr. Joanne Liu Internationale Präsidentin von Ärzte ohne Grenzen