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Masern: „Jeden Tag sehe ich Kinder an einer vermeidbaren Krankheit sterben“
Ärztin Marion Osterberger ist seit fast zwei Monaten im Spital von Ankoro im Einsatz, das in der Provinz Katanga im Süden der Demokratischen Republik Kongo liegt. Die Masern-Epidemie breitet sich in der Provinz immer weiter aus und trifft vor allem die Kleinsten. In ihrem persönlichen Bericht schildert sie die harte Realität, wenn Patienten nicht mehr gerettet werden können, den Wettlauf gegen die Zeit und wie unser Team pausenlos arbeitet, um trotzdem möglichst vielen zu helfen.
„An jenem Tag kam ich mit Tränen in den Augen aus dem Reanimationsraum. Alle schauten mich an, die Patienten, die Mütter, meine Kollegen. Ich konnte einfach nicht mehr und ließ mich auf die Stufen des Kolonialgebäudes fallen. Es ist nicht leicht zu erklären, warum einige Patienten einen besonders aufwühlen.
Die kleine Annie war in meinen Armen gestorben, trotz all unserer Anstrengungen. Annie war vier Jahre alt geworden, und schon bei ihrer Einweisung ins Spital war mir der schmollende Ausdruck in ihrem Kindergesicht aufgefallen. Annie litt unter praktisch allen Komplikationen, die bei Masern vorkommen können, von Malaria bis hin zur Mangelernährung, und ihr Fieber konnte durch kein Mittel gesenkt werden. Nichts half mehr, weder unsere Behandlung noch ihr Vater, der Tag und Nacht liebevoll an ihrem Bett wachte.
Spital überbelegt: Bis zu fünf Kinder in einem Bett
Das war vor einigen Wochen, als das Spital aus allen Nähten platzte. Wir waren vollkommen überbelegt und hatten 198 Patienten bei nur 80 verfügbaren Betten. In der Intensivstation für Masern-Patienten lagen zum Teil fünf Kinder in einem Bett. Unsere Teams arbeiteten pausenlos in brütender Hitze, jeden Tag und jede Nacht.
In Mitteleuropa gelten Masern als meist banal verlaufende Kinderkrankheit, aber wir vergessen oft, dass sie weltweit zu den häufigsten Todesursachen bei Kindern zählt. Es handelt sich um eine hoch ansteckende Krankheit mit zum Teil gefährlichen Komplikationen, vor allem bei bereits geschwächten Kindern, sei dies durch Malaria oder durch Mangelernährung. In der Demokratischen Republik Kongo kommt es häufig vor, dass infizierte Kinder unter fünf Jahren - die überwiegende Mehrzahl unserer Patienten - an Komplikationen leiden: schwerer Durchfall, Mittelohrentzündungen, Lungenentzündungen, Augenerkrankungen oder Hirnhautentzündungen, die auch tödlich verlaufen können. Es gibt keine spezielle Behandlung gegen Masern, aber man kann die Symptome bekämpfen und den Komplikationen mit ihren irreversiblen Schäden vorbeugen: Vermeidung einer Dehydrierung, Aufbaunahrung gegen Mangelernährung, Abgabe von Vitamin A gegen Augenschäden und von Antibiotika gegen bakterielle Infektionen wie Lungenentzündungen. Es kommt vor, dass ich traurig oder wütend bin, weil es so vielen Kindern so schlecht geht, wenn sie zu uns gebracht werden.
Kaum Zugang zu medizinischer Hilfe
Man muss wissen, dass die Provinz, in der wir arbeiten, etwa so groß ist wie Spanien. Wegen der großen Distanzen und der schlechten Straßen, die in der Regenzeit vollkommen verschlammen, haben die Erkrankten kaum Zugang zu medizinischer Versorgung. Einige Patienten im Spital stammen aus dem Ort Ankoro selbst, aber die meisten wurden aus abgelegenen Gesundheitszentren hertransportiert. Ärzte ohne Grenzen hat die Pflegeleitung von rund zwanzig Gesundheitsposten in der Umgebung über die Überweisungskriterien informiert und bezahlt zudem die Krankentransporte. Meist kommen die Kinder im Arm ihrer Mutter an, die hinten auf einem Motorradtaxi sitzt. Nicht selten sind sie so fünf oder sechs Stunden unterwegs gewesen, hin- und her geschüttelt auf Buschpisten voller Schlaglöcher.
Ich wundere mich oft, wie Kinder mit mehrfachen Komplikationen das ohne Medikamente überhaupt aushalten. Manchmal sind meine Gedanken auf dem Weg zur Unterkunft noch in der Intensivstation, und ich denke, dass mein Pager in der Nacht bestimmt wegen diesem oder jenem Kind piepsen wird. Aber dann vergeht die Nacht und auch die folgende, und dem Kind geht es immer besser, bis es eines Tages über den Berg ist. Wenn ein Kind entlassen werden kann, ist das jedes Mal ein ganz spezieller Moment. Die kongolesischen Mütter singen und tanzen, sie umarmen uns und bedanken sich für das, was uns allen wie ein richtiger Sieg erscheint. So sieht der Alltag im Kampf gegen ein Virus aus, gegen das man sich eigentlich schützen kann. Denn schließlich wurde in der Region kürzlich eine Impfkampagne durchgeführt!
„Mit verbundenen Augen ein Buschfeuer löschen.“
Aber wie viele Kinder sind dieses Jahr in den Dörfern, in den Gesundheitszentren oder auf dem Weg zum Spital gestorben? Schwer zu sagen. Auch in den Spitälern, wo Ärzte ohne Grenzen arbeitet, lassen Masern und Malaria die Sterblichkeitsrate manchmal bis auf 10 Prozent ansteigen. Die Lage im Spital von Ankoro scheint sich nun zu stabilisieren. Aber im Rest des Landes breiten sich die Masern immer weiter aus. Für unsere Teams ist es ein Wettlauf gegen die Zeit. Als müssten wir mit verbundenen Augen ein Buschfeuer löschen.“