„HIV/Aids ist immer noch ein Tabu“

17.11.2011
Dr. Calorine Mekiedje berichtet aus dem Ärzte ohne Grenzen-Projekt in Tavoy

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Jemand hält mit beiden Händen Medikamente zur Behandlung von HIV/Aids und Tuberkulose.
Véronique Terrasse
Dawei, Myanmar (Burma), 21.10.2010: "Die Patienten kommen manchmal von weither, weil sie gehört haben, dass wir Behandlungen und Medikamente gegen HIV/Aids anbieten."

Dr. Calorine Mekiedje ist Spezialistin für die Behandlung von HIV/Aids und hat unter anderem in Mosambik und in Kamerun gearbeitet. Sie berichtet über ihre Erfahrungen als ärztliche Beraterin im Spital von Tavoy im Süden von Myanmar, wo Ärzte ohne Grenzen HIV-positive Patientinnen und Patienten behandelt. Seit dem Jahr 2000 werden dort auch HIV-Patienten behandelt, die gleichzeitig an Tuberkulose erkrankt sind.

Können Sie uns die wichtigsten Tätigkeitsbereiche von Ärzte ohne Grenzen im Spital von Tavoy schildern?

Die Teams behandeln zwischen 80 und 90 Patienten pro Tag, manchmal auch 100. Wir bieten ihnen kostenlose Behandlung und Diagnostik an und sie können sich auf HIV/Aids und Tuberkulose testen lassen. Wir verfügen auch über ein Präventionsprogramm gegen die Übertragung der HIV-Infektion von der Mutter auf das Kind. Wir betreuen etwa 3.000 HIV-positive Menschen. Jeden Monat kommen durchschnittlich 30 bis 40 neue Patienten dazu, die mit antiretroviralen Medikamenten (ARV) behandelt werden. In Myanmar gibt es nur wenige Behandlungsmöglichkeiten. Die Patienten kommen manchmal von weither, weil sie gehört haben, dass wir Behandlungen und Medikamente gegen HIV/Aids anbieten. Wir unterstützen diese Menschen auch mit Nahrungsmitteln wie etwa Soja, Salz, Öl oder Bohnen.

Inwiefern unterscheidet sich Ihre Erfahrung in Myanmar von derjenigen in Kamerun?

Es hat mich überrascht, wie wenig man in Myanmar über HIV/Aids weiß. In Afrika ist die Situation ganz anders: Dort hat der Grad der Ausbreitung eine Höchstmarke erreicht und die Menschen kennen sich gut mit der Krankheit aus. Hier dagegen ist HIV/Aids noch kaum bekannt und viele Menschen haben Angst vor einer Stigmatisierung. Dies ist eine sehr traditionsreiche und religiös geprägte Gesellschaft, in der es dem Einzelnen schwer fällt, über sein privates oder sexuelles Leben zu sprechen. Das Thema ist tabu. In diesem Kontext ist es schwierig, offen über die Krankheit zu reden. Da sich die Patienten erst spät über ihre Krankheit und deren Übertragungswege bewusst werden, besteht das Risiko, dass die Prävention zu spät erfolgt und die Zahl der Neuinfektionen exponentiell wächst.

Welches Ziel verfolgt das Programm in Tavoy?

Hauptziel ist, den Patienten kostenlose Behandlung und Medikamente von hoher Qualität anzubieten. Wichtig ist aber auch, den Menschen ihren Lebenswillen zurückzugeben, wenn ihnen klar wird, dass sie HIV-positiv sind und Angst haben, daran zu sterben. Damit sie sich nicht schuldig fühlen, bestehen wir nicht darauf zu erfahren, auf welche Weise sie sich angesteckt haben. Aber wir informieren sie über die Behandlungsmöglichkeiten und wie sie ihre Familie schützen können. Unser Ziel ist es, ihre Kenntnisse über die Krankheit und über die Art der Übertragung zu verbessern. Allein die Tatsache, dass man hier über diese Krankheit so wenig weiß, stellt eine große Herausforderung dar.

Was macht Ihrer Meinung nach die Besonderheit dieses Projekts aus?

Die Besonderheit liegt in der Tatsache, dass wir einer Bevölkerung medizinische Versorgung bieten, die äußerst mobil ist, nämlich Fischern sowie armen und wenig gebildeten Wanderarbeitern. Die Abstände zwischen den Terminen sind lang, denn die Menschen kommen von weither. Normalerweise müsste ein Patient alle zwei bis drei Monate zur Kontrolle erscheinen. Bei uns kommen die Patienten manchmal nur alle sechs Monate ins Spital, wenn die Untersuchungen erst einmal beendet sind. Sie arbeiten in Malaysia oder in Thailand und stellen für ihre Familie oft die einzige Einkommensquelle dar. Wenn die Fischfang-Saison eröffnet ist, fahren sie mit dem Boot hinaus und leben dort manchmal sechs oder sieben Monate lang. Wir geben ihnen die notwendige Menge an Medikamenten mit, um diesen Zeitraum abzudecken. Wenn sie dann nach Hause zurückgekehrt sind, betreuen wir sie wieder regelmäßig.

Was hat Ihnen diese Erfahrung in beruflicher und in persönlicher Hinsicht gebracht?

Es ist sehr befriedigend zu sehen, wie dankbar die Patienten für die Aufmerksamkeit und die Behandlung sind, die sie hier erhalten. Unsere Zuwendung ist ja nicht nur auf das Medizinische beschränkt. Sie besteht auch in einer moralischen Unterstützung, denn die Kranken leiden sehr und sie haben den Lebenswillen verloren. Wenn man sieht, wie sie neue Hoffnung schöpfen und ihre Kräfte langsam zurückkehren, dann ist das Belohnung genug. In beruflicher Hinsicht habe ich mir als medizinische Beraterin eine Gesamtübersicht erworben, die ich vorher als Ärztin in einem Spital so nicht hatte. Auch in persönlicher Hinsicht war es eine gute Lehrzeit. Ich bin von Natur aus ein sehr geduldiger Mensch und hier hatte ich das Gefühl, auf Seelenverwandte zu treffen. Die Leute sind so ruhig und beklagen sich nie. Sie nutzen das, was ihnen zur Verfügung steht. Diese Philosophie sagt mir sehr zu.