Handelsabkommen gefährdet die Versorgung von Menschen in Entwicklungsländern mit Medikamenten

10.02.2012
Knapp 2.000 HIV/Aids-Patienten beim Start des EU-Indien-Gipfels in Delhi auf der Straße
Indien
Syddharth Singh
Neu Dehli, Indien, 10.02.2012: Mehr als 2.000 Menschen die mit HIV/Aids leben müssen, demonstrierten in Neu Dehli zum Start des EU-Indien Gipfels.

Neu Delhi/Wien, 10. Februar 2012  –  Während Indien und die Europäische Union sich heute in Neu Delhi zu einem Gipfel treffen, um Differenzen zu einem Freihandelsabkommen auszuräumen, demonstrierten knapp 2.000 HIV/Aids-Kranke und die internationale medizinische Nothilfeorganisation  Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF)  in den Straßen der indischen Hauptstadt, um davor zu warnen, dass die in dem Abkommen enthaltenen Bestimmungen ernsthafte Folgen für den Zugang zu leistbaren Medikamenten in Entwicklungsländern haben könnten.

"Wir haben an den Orten, wo wir arbeiten, zu viele Menschen gesehen, die gestorben sind, weil die benötigten Medikamente zu teuer sind“, sagt Dr. Unni Karunakara, Internationaler Präsident von Ärzte ohne Grenzen . „Wir dürfen nicht zulassen, dass aufgrund dieses Handelsabkommens die Apotheke der Entwicklungsländer zugesperrt wird.“

80% der HIV/Aids Medikamente werden in Indien produziert

Indien produziert leistbare, qualitativ hochwertige generische Medikamente, auf die Regierungen, die UNO und Ärzte ohne Grenzen angewiesen sind, um Menschen in Entwicklungsländern zu behandeln. Dank des Wettbewerbs zwischen Generika-Herstellern in Indien ist beispielsweise der Preis von HIV/Aids-Medikamenten um mehr als 98,5 Prozent gesunken: von jährlich 10.000 US-Dollar pro Person im Jahr 2000 auf derzeit rund 150 Dollar. Diese signifikante Preissenkung hat weltweit eine massive Ausweitung der Behandlung von HIV/Aids ermöglicht: Mehr als 80 Prozent der HIV/Aids-Medikamente, die zur Behandlung von rund 6,6 Millionen Menschen in Entwicklungsländern eingesetzt werden, stammen von indischen Produzenten, zudem werden 90 Prozent der HIV/Aids-Medikamente für Kinder in Indien produziert. Ärzte ohne Grenzen und andere Organisationen verwenden indische Generika-Medikamente auch zur Behandlung anderer Erkrankungen.

Freihandelsabkommen schränkt Produktion günstiger Medikamente ein

„Ob wir leben oder sterben, sollte nicht in den Händen der Verhandler liegen“, sagt Mundrika Gahlot vom Delhi Network of Positive People. „Wir sind heute alle mit einer klaren Botschaft für Indien und die EU hier: Verhandelt nicht über unser Leben.“

Bestehende Handelsregeln schränken bereits jetzt die Möglichkeiten ein, generische Versionen neuer Medikamente zu erzeugen. Durch das Freihandelsabkommen zwischen der EU und Indien droht sich diese Situation weiter zu verschlimmern, indem weitere Hürden aufgebaut werden. Beim Gipfel wird erwartet, dass beide Seiten Kompromisse bei den Verhandlungen eingehen werden. Die EU hat Druck auf Indien ausgeübt, Maßnahmen zuzustimmen, die Produktion, Registrierung und Distribution von leistbaren Generika beeinflussen würden. Ärzte ohne Grenzen ist vor allem über Vollstreckungsmaßnahmen besorgt, die von der EU forciert werden. Dadurch könnten Medikamente in indischen Häfen gestoppt werden, bevor sie das Land auf ihrem Weg zu Patienten in anderen Entwicklungsländern verlassen, und medizinische Akteure wie Ärzte ohne Grenzen könnten auf diese Weise sogar in Gerichtsverhandlungen verwickelt werden.

Proteste weiten sich aus

„Was die EU mit diesem Handelsabkommen versucht, ist in Indien die Produktion leistbarer generischer Medikamente, die schon so vielen Menschen das Leben gerettet haben, langsam zu vergiften“, sagt Piero Gandini, Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen in Indien. „Dieses Handelsabkommen könnte uns als behandelnde Organisation treffen, nur weil wir generische Medikamente aus Indien kaufen, um Patienten in unseren Programmen zu behandeln.“

Den Protesten in Neu Delhi waren in der vergangenen Woche ähnliche Kundgebungen von Aktivisten und HIV-Infizierten in Nepal, Malaysia, Großbritannien, Südafrika und Kamerun vorausgegangen.

Die kritischsten Bestimmungen im Freihandelsabkommen (FTA) zwischen Indien und der EU:

  •  „Vollstreckungsmaßnahmen“ könnten dazu führen, dass die Ausfuhr generischer Medikamente aus Indien in andere Entwicklungsländer bloß aufgrund der Behauptung, ein Patent oder eine Marke sei verletzt worden, verboten wird. Dieser Passus könnte auch behandelnde Organisationen – wie Ärzte ohne Grenzen – in Gerichtsprozesse verwickeln, nur weil sie Patienten mit generischen Medikamenten behandeln.

  • Der „Investitions-Teil“ des Freihandelsabkommens gibt Firmen mehr Möglichkeiten, die indische Regierung zu verklagen, wenn diese Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Gesundheit setzt – etwa, indem ein Patent aufgehoben wird, um besseren Zugang zu einem Medikament zu gewährleisten, oder durch die Kontrolle der Medikamentenpreise. Diese Konflikte, bei denen es um riesige Schadenssummen geht, würden nicht in gewöhnlichen Gerichten, sondern in geheimen Schlichtungsgremien behandelt werden. Ähnliche Bestimmungen in Freihandelsabkommen zwischen anderen Ländern haben bereits dazu geführt, dass Unternehmen Regierungen verklagt haben, um diese zu einer Aufhebung von Maßnahmen im Interesse der öffentlichen Gesundheit zu zwingen (z.B. Phillip Morris gegen Uruguay). Unternehmen behaupten, solche Maßnahmen würden sie ihrer Investitionen und Profite berauben.

  • Eine weitere Maßnahme – die so genannte „Datenexklusivität“ – könnte die Produktion von Generika auch dann blockieren, wenn kein Patent ausgestellt wurde oder ein Patent abgelaufen ist. Obwohl die EU angibt, offiziell nicht mehr auf Datenexklusivität zu bestehen, übt sie hinter verschlossenen Türen weiter Druck auf Indien aus, die Gesetze zu ändern. Die EU muss ihr Versprechen halten, dieses Thema nicht erneut auf die Agenda zu setzen.

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