Ärzte ohne Grenzen: Europa muss Bootsflüchtlinge aus Libyen aufnehmen

19.05.2011
Offener Brief an die Staats- und Regierungschefs der EU
Italien 2011
Mattia Insolera
Lampedusa, Italien, 19.04.2011: Nach drei Tagen Seereise in einem alten Fischerboot erreichten am 19. April 2011 weitere 760 MigrantInnen die Insel.

Wien, 19. Mai 2011. Die medizinische Nothilfeorganisation Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) hat in einem offenen Brief an die Staats- und Regierungschefs der EU die widersprüchliche europäische Libyen-Politik kritisiert: Einerseits erheben die EU-Staaten den Anspruch, mit dem Eingreifen in den Krieg in Libyen Zivilisten zu schützen. Andererseits machen sie gleichzeitig die Grenzen für die Opfer dieses Krieges dicht - unter dem Vorwand, einen massiven Zustrom illegaler Einwanderer verhindern zu müssen. Der Brief wurde am Donnerstag in 13 europäischen Tageszeitungen veröffentlicht.

„Die europäischen Staaten, die am Krieg in Libyen beteiligt sind, drücken sich vor ihren juristischen und moralischen Verpflichtungen und vergessen die Opfer eines Krieges, den sie selbst führen“, erklärt Dr. Reinhard Dörflinger, Präsident von Ärzte ohne Grenzen Österreich. „Die Rhetorik und die Maßnahmen der europäischen Politiker, die vor der Kulisse des Kampfes gegen illegale Einwanderung präsentiert werden, beschränken de facto den Zugang der Kriegsopfer nach Europa. Dieser Zynismus der Politik ist beschämend.“

 

Diskrepanz

 

Ärzte ohne Grenzen verweist zudem auf die Diskrepanz zwischen der Hilfe der Nachbarländer Libyens und der Politik der EU-Staaten: Während Tunesien und Ägypten fast 630.000 Flüchtlinge aufgenommen haben, weisen die europäischen Länder libysche Bootsflüchtlinge, die ihr Leben riskieren, um Europa zu erreichen, auf ihrem Territorium und in ihren Hoheitsgewässern zurück.

„Die Menschen, die wir in Lampedusa betreuen, berichten von Drohungen und Gewalt, die sie in Libyen erfahren haben: Einige wurden geschlagen oder haben gesehen, wie ihre Freunde vor ihren Augen gestorben sind“, sagt Loris De Filippi, Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen. „Nach einer langen Reise, auf der sie ihr Leben riskiert haben, kommen sie völlig erschöpft an und sind oft unterkühlt. Wenn sie endlich Europa erreichen, finden sie inakzeptable Aufnahmebedingungen vor und sind mit einer völlig unsicheren Zukunft konfrontiert.“

 

Offener Brief

 

In dem offenen Brief verweist Ärzte ohne Grenzen auf die völkerrechtliche Verpflichtung, die Rechte von Kriegsopfern zu schützen. Die Organisation fordert, dass die Flüchtlinge nicht aus europäischen Hoheitsgewässern oder von europäischem Boden ins Kriegsgebiet abgeschoben werden, dass angemessene Aufnahmebedingungen in Europa sichergestellt und der Zugang zu einem rechtmäßigen Asylverfahren garantiert wird.

Teams von Ärzte ohne Grenzen leisten den Opfern des Krieges in Libyen in den Städten Misrata, Bengasi und Sintan, in Tunesien sowie auf der italienischen Insel Lampedusa Hilfe. Sie werden täglich Zeugen der Auswirkungen des Konflikts auf Zivilisten.

Der offene Brief wurde heute in folgenden Medien veröffentlicht: Die Presse, Der Standard (Österreich), Le Soir, De Standaard (Belgien), Berlingske Tidende (Dänemark), Le Monde (Frankreich), Kathimerini (Griechenland), Corriere della Sera, La Repubblica, (Italien), Svenska Dagbladet (Schweden), Le Temps (Schweiz), El País (Spanien), European Voice (Europäische Union).

Die Empfänger und Empfängerinnen des offenen Briefes: Werner Faymann, Bundeskanzler und Michael Spindelegger, Vize-Kanzler und Außenminister (Österreich), Yves Leterme, Premierminister (Belgien), Lars Løkke Rasmussen, Premierminister und Lene Espersen, Außenministerin (Dänemark), Angela Merkel, Bundeskanzlerin (Deutschland), Nicolas Sarkozy, Staatspräsident (Frankreich), Giorgos Andrea Papandreou, Premierminister (Griechenland), David Cameron, Premierminister (Großbritannien), Silvio Berlusconi, Premierminister (Italien), Jean-Claude Juncker, Premierminister (Luxemburg), Mark Rutte, Premierminister (Niederlande), Jens Stoltenberg, Premierminister (Norwegen), Fredrik Reinfeldt, Premierminister (Schweden), José Luis Rodríguez Zapatero, Premierminister (Spanien), Petr Necas, Premierminister (Tschechische Republik), Herman Van Rompuy, Präsident des Europäischen Rats, Jerzy Buzek, Präsident des Europäischen Parlaments, José Manuel Barroso, Präsident der Europäischen Kommission, Catherine Ashton, Vize-Präsidentin der Europäischen Kommission und Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik.

Informationen zu den Einsätzen:

Lampedusa (Italien):

 

  • Ärzte ohne Grenzen führt die Triage der ankommenden Patienten und Patientinnen am Hafen durch und kümmert sich um deren medizinische Behandlung in den Auffanglagern der Insel. Die Teams haben auch die Lebensbedingungen der Flüchtlinge und deren Zugang zu medizinsicher Versorgung in Auffanglagern in Italien untersucht. Derzeit sind etwa 11.175 Migranten und Asylwerber aus Libyen nach Italien gekommen.
  • Seit Februar 2011 hat Ärzte ohne Grenzen über 1.700 medizinische Untersuchungen für Migranten und Flüchtlinge auf Lampedusa durchgeführt und ihnen insgesamt 2.500 Hygiene-Kits, 4.500 Decken und 3.500 Wasserflaschen zur Verfügung gestellt.

 

 Libyen:

 

  • Die Teams von Ärzte ohne Grenzen sind seit 24. Februar in Libyen vor Ort und arbeiten derzeit in Zintan, Misrata und Bengasi.
  • In Misrata leisten etwa 20 Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen seit dem 18. April in drei Spitälern chirurgische und medizinische  Hilfe (in Al Abbad, Kasr Ahmed und Ras Tuba) und arbeiten daran, die Aufnahmekapazität dieser Spitäler zu erhöhen.
  • In Bengasi unterstützt Ärzte ohne Grenzen die beiden zentralen Apotheken durch die Lieferung von lebenswichtigen Medikamenten. Die Organisation hat auch die Situation von Familien, die durch den Konflikt in die Gegend rund um Bengasi vertrieben wurden, evaluiert. Teams von Ärzte ohne Grenzen werden nun Aktivitäten im Vertriebenenlager Al Bayda starten, wo 900 Familien Zuflucht gesucht haben. Ärzte ohne Grenzen unterstützt auch weiterhin den medizinischen Ausschuss zur Betreuung von Opfern sexueller Gewalt in Bengasi und liefert hier auch psychologisches Know-how. Außerdem werden weiterhin Patienten mit chronischen Krankheiten unterstützt und Medikamente gegen HIV/Aids und TB geliefert.
  • Seit 30. April unterstützt Ärzte ohne Grenzen medizinische Mitarbeiter im Krankenhaus von Zintan, einer Stadt im Westen Libyens, bei der Bewältigung der großen Zahl an Verletzten. Ungefähr 100 Verwundete wurden seit Anfang Mai im Krankenhaus in Folge der Kämpfe zwischen Pro-Gaddafi Truppen und Rebellen aufgenommen.

 

Tunesien:

 

  • Psychologen von Ärzte ohne Grenzen leisten Menschen, die vor dem Konflikt in Libyen geflohen sind und in den Flüchtlingslagern an der tunesisch-libyschen Grenze Unterschlupf gefunden haben, seit März psychologische Unterstützung. Mehr als 4000 Konsultationen wurden bis heute durchgeführt.
  • Seit April haben über 40.000 libysche Familien in Tunesien Zuflucht vor der Gewalt in ihrer Heimat gesucht. Ärzte ohne Grenzen setzt mobile Kliniken entlang der tunesischen Grenzen zwischen Dehiba und Tataouine ein, die psychologische Hilfe für Flüchtlinge in Übergangslagern, Kliniken und bei Gastfamilien anbieten. Mitarbeiter unterstützen außerdem lokale Gesundheitseinrichtungen bei der Bewältigung des erhöhten Andrangs an Patienten.

 

Offener Brief zum Download Pressemitteilung zum Download