Zehn Jahre nach dem Erdbeben auf Haiti: Gesundheitswesen droht neuerlicher Kollaps

09.01.2020
Zehn Jahre nach dem verheerenden Erdbeben auf Haiti hat sich die medizinische Versorgung der Menschen erneut massiv verschlechtert. Das Gesundheitssystem steht vor dem Zusammenbruch.

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Tabarre
Jeanty Junior Augustin
A nurse pushing a patient through the corridor of the Nap Kenbe centre in Tabarre.

„Das verheerende Erdbeben im Januar 2009 hat Tausende Haitianerinnen und  Haitianer getötet, Millionen obdachlos gemacht und 60 Prozent des schon zuvor schwachen Gesundheitssystems zerstört“, sagt Hassan Issa, Landeskoordinator von Ärzte ohne Grenzen in Haiti. „Zehn Jahre später haben die meisten medizinischen Organisationen das Land wieder verlassen und Haitis Gesundheitssystem steht angesichts der eskalierenden politischen und wirtschaftlichen Krise erneut vor dem Zusammenbruch. Der Alltag für die meisten Menschen wird durch die steigende Inflation, die schwierige Wirtschaftslage und regelmäßige Gewalt immer heikler.“

Rettung kommt nicht durch

Der Bericht Haiti Ten Years On beschreibt die enormen Herausforderungen für haitianische Gesundheitseinrichtungen, die medizinische Versorgung aufrecht zu erhalten. Seit dem Benzinpreisanstieg im Juli 2018, der die aktuelle Krise ausgelöst hat, kämpft das haitianische Gesundheitssystem mit einem Mangel an Medikamenten, Blutkonserven, Sauerstoff für medizinische Zwecke, Benzin sowie mit fehlendem medizinischen Personal. Im Jahr 2019 kam es zu mehrmonatigen landesweiten Blockaden. Straßen wurden von Barrikaden aus brennenden Reifen, Kabeln und sogar über Nacht errichteten Mauern blockiert, so dass Krankenwagen, Patienten, Gesundheitspersonal und Transporte mit medizinischen Hilfsgütern behindert wurden.

Ärzte ohne Grenzen hat aufgrund der Krise im November ein Unfallkrankenhaus mit 50 Betten im Stadtteil Tabarre in Port-au-Prince eröffnet. Schon in den ersten fünf Wochen erreichten 574 Patientinnen und Patienten die Klinik, darunter 150 Menschen mit lebensgefährlichen Verletzungen. 57 Prozent der Schwerverletzten hatten Schusswunden. Außerdem hat die Organisation staatlichen Gesundheitseinrichtungen medizinische Ausrüstung und Material zur Verfügung gestellt, das Personal der wichtigsten öffentlichen Klinik von Port-au-Prince ausgebildet, Einrichtungen instand gesetzt und elf medizinische Einrichtungen im ganzen Land unterstützt.

Stundenlange Wartezeit trotz Lebensgefahr

Im Jahr 2019 hat die Notfallklinik von Ärzte ohne Grenzen in Martissant in der Hauptstadt Port-au-Prince durchschnittlich 2.450 Patienten pro Monat behandelt. Zehn Prozent von ihnen hatten Schusswunden und andere gewaltbedingte Verletzungen. Ein weiteres Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen zur Behandlung von Verbrennungen im Osten der Stadt verzeichnete im September einen Höhepunkt mit insgesamt 141 Patientinnen und Patienten. Auch in ländlichen Gebieten sind die Auswirkungen der Krise enorm. Das Hauptkrankenhaus und die Blutbank des Departements Süd wurden im Oktober geschlossen, nachdem sie geplündert worden waren, und sind noch immer nicht voll funktionsfähig. In einem Gesundheitszentrum in der Gemeinde Port-à-Piment im Südwesten des Landes, in dem Ärzte ohne Grenzen seit langem medizinische Versorgung für Mütter anbietet, dauert es selbst für Patientinnen in Lebensgefahr bis zu fünf Stunden, bis sie an ein Krankenhaus überwiesen werden können.
 
Am 12. Januar 2010 hatte ein Erdbeben der Stärke 7,0 Haiti erschüttert. An diesem Tag starben auch zwölf Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen. In den folgenden Jahren hat die Organisation eines der größten Hilfsprogramme ihrer Geschichte gestartet. Mehr als 350.000 vom Erdbeben betroffene Menschen wurden in nur zehn Monaten medizinisch behandelt. Die Organisation leistet seit 1991 medizinische Hilfe in Haiti.