10.000 Geflüchtete leben unter menschenunwürdigen Bedingungen – Bericht zeigt Gewalt gegen Flüchtlinge und Migranten an der französischen Grenze

08.02.2018
10.000 Flüchtlinge leben unter unmenschlichen Bedingungen am Rande der Gesellschaft. Viele berichten von Gewalt durch italienische und französische Grenzpolizisten.
Gorizia, «Galleria Bombi»
Alessandro Penso/MAPS
From August to November 2017 between 100 and 150 asylum seekers, mostly coming from Pakistan, lived in a tunnel in the middle of the town. They came from the “Balkan route” (few of them) and from other EU member states where their application for international protection had been rejected. According to the European and Italian laws, authorities should have given them a place in a reception center , but they have been left without any assistance for weeks, with the only help of activists and volunteers distributing them food and sleeping bags, partly donated by MSF.

In Italien leben etwa 10.000 wohnungslose Flüchtlinge und Migranten unter unmenschlichen Bedingungen am Rande der Gesellschaft. Gleichzeitig berichten viele Geflüchtete von Gewalt durch italienische und französische Grenzpolizisten. Mindestens 20 Menschen starben in den vergangenen beiden Jahren beim Versuch, die nördlichen Grenzen Italiens zu überqueren. Das zeigen zwei von Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) am Donnerstag vorgestellte Berichte.

Für den Bericht „Harmful Borders“ haben Mitarbeiter von Ärzte ohne Grenzen im August und September 2017 in der Stadt Ventimiglia nahe der französischen Grenze 287 Geflüchtete befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass Geflüchtete trotz des formal noch gültigen Schengen-Abkommens regelmäßig nach Italien zurückgezwungen werden und in Ventimiglia in informellen Siedlungen ohne ausreichenden Zugang zu Hilfsgütern und medizinischer Versorgung hausen. Fast jeder vierte Geflüchtete berichtete von Gewalt an der Grenze, meist durch italienische und französische Grenzpolizisten. Der Bericht „Out of Sight“ dokumentiert darüber hinaus 20 Todesfälle von Geflüchteten in den vergangenen beiden Jahren beim Versuch, die Grenzen zu Frankreich, der Schweiz und zu Österreich zu überqueren.

Der ausführliche Report „Out of Sight“ zeigt die Lebensumstände von etwa 10.000 Flüchtlingen und Migranten, die wegen der unzulänglichen Aufnahmebedingungen in Italien in informellen Siedlungen hausen. Ärzte ohne Grenzen ruft die nationalen und lokalen Behörden in Italien dazu auf, den Zugang jedes Menschen, unabhängig von seinem Status, zu grundlegenden Bedürfnissen wie medizinischer Versorgung, Unterkunft, Nahrung und sauberem Wasser zu gewährleisten. Der Bericht basiert auf zahlreichen Besuchen in Slums, besetzten Gebäuden und anderen informellen Siedlungen in den Jahren 2016 und 2017. Die erste Ausgabe wurde vor zwei Jahren veröffentlicht.

„Die Ergebnisse des Berichtes zeigen eine nach wie vor traurige Realität“, sagt Giuseppe De Mola von Ärzte ohne Grenzen in Italien. „Sie zeigen, wie schutzbedürftig und marginalisiert tausende Menschen sind, die in Italien eigentlich ein Anrecht auf Schutz hätten. Tatsächlich haben sie nicht einmal einen angemessenen Schlafplatz, nicht ausreichend zu essen und keine Möglichkeit, zum Arzt zu gehen. Infolge der unzureichenden Aufnahmebedingungen sowie einer Grenzpolitik, die Menschen gefährdet, leben Flüchtlinge und Migranten am Rande der Gesellschaft. Programme zur Integration von Flüchtlingen und Migranten werden auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene zu wenig umgesetzt.“

Kriminalisierung von Flüchtlingen und Helfern

Flüchtlinge und Migranten leben heute im Vergleich zu 2016 in kleineren Gruppen zusammen, da viele informelle Unterkünfte zwangsgeräumt wurden. Da ihnen keine alternativen Unterkünfte angeboten wurden, müssen sie nun ganz am Rande der Gesellschaft leben, zum Beispiel in verlassenen Gebäuden. Dadurch leben Flüchtlinge und Migranten immer weiter verstreut. Darum sowie aufgrund von sprachlichen und administrativen Hindernissen ist es für die Menschen extrem schwer, Trinkwasser und Nahrungsmittel zu bekommen und Zugang zu sozialen Dienstleistungen und Gesundheitsversorgung zu erhalten.

Menschen, die sich außerhalb des staatlichen Systems für Flüchtlinge und Migranten engagieren, werden von nationalen oder kommunalen Behörden häufig unter großen Druck gesetzt. In einigen Fällen haben staatliche Stellen sogar Gerichtsverfahren gegen ehrenamtliche Helfer eingeleitet.

„Wir erkennen keine längerfristigen Strategien, die Grundbedürfnisse einer relativ übersichtlichen Zahl von Menschen zu gewährleisten, die unter unmenschlichen Bedingungen leben“, sagt Tommaso Fabbri, Projektleiter für Ärzte ohne Grenzen in Italien. „Stattdessen beobachten wir immer häufiger eine Kriminalisierung von Flüchtlingen und Migranten sowie der Menschen, die ihnen helfen. Die europäische und italienische Politik sollte den geflüchteten Männern, Frauen und Kindern helfen und ihnen nicht schaden. Es ist Zeit, den Kurs zu ändern.“

In den Jahren 2016 und 2017 hat Ärzte ohne Grenzen die Hilfe für Geflüchtete in informellen Camps in Italien ausgeweitet. In Rom bieten Teams in verlassenen Gebäuden eine medizinische Grundversorgung sowie psychologische Unterstützung an. In Bari und Turin informieren sie Geflüchtete über Zugangsmöglichkeiten zum italienischen Gesundheitssystem. In mehreren Grenzstädten haben sie zusammen mit Freiwilligen und Aktivisten Decken, Schlafsäcke und Hygienekits verteilt. In Como (nahe der italienisch-schweizerischen Grenze) und Ventimiglia (an der italienisch-französischen Grenze) betrieb Ärzte ohne Grenzen ein Programm für psychologische Erste Hilfe für Menschen auf der Durchreise. In Ventimiglia gab es zusätzlich ein Projekt für Frauengesundheit.