Flüchtlinge in Griechenland: Psychosozialer Notstand auf den griechischen Inseln

10.10.2017
Ärzte ohne Grenzen wirft Griechenland und der EU vor, für einen Notstand unter Asylsuchenden auf den griechischen Inseln mitverantwortlich zu sein. Teams auf Lesbos und Samos behandeln immer häufiger Patienten und Patientinnen, die Selbstmordversuche oder Selbstverletzungen unternommen haben.
Samos island, Greece
Mohammad Ghannam/MSF
Umm Akeel spoke to MSF from behind the barbed wire and fence surrounding the Samos island hotspot that has been turned into a detention centre for asylum seekers. She is a 25-year-old mother who fled her jihadist-held town of Jarablus in the countryside of Syria's Aleppo with her baby, who is now just 20 months old. She had no choice, she says, with the Syrian regime and US-led coalition waging air strikes in the area on one hand, and the Islamic State group imposing on her town its own brutal version of Islamic law. "After five hours on the boat of death from Izmir to Greece, we reached ?Samos?. I felt so happy that we were safe, but that happiness just faded away when they put us in detention as though we were criminals," she said. For more details see: https://lc.cx/4BCb

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) wirft Griechenland und der EU vor, für einen psychosozialen Notstand unter Asylsuchenden auf den griechischen Inseln mitverantwortlich zu sein. Die Teams der Organisation auf Lesbos und Samos behandeln immer häufiger Patienten und Patientinnen, die Selbstmordversuche oder Selbstverletzungen unternommen oder psychotische Episoden durchlebt haben. Ein heute veröffentlichter Bericht zeigt, dass Gewalt, Vernachlässigung und die schlechten Lebensbedingungen den dramatisch schlechten seelischen Gesundheitszustand vieler Patienten maßgeblich verursachen. Ärzte ohne Grenzen fordert Griechenland und die EU auf, alle Asylsuchenden rasch auf das griechische Festland umzusiedeln, wo sie angemessen untergebracht werden können und besseren Zugang zu nötiger Gesundheitsversorgung haben.

„Diese Menschen haben Bombardements, extreme Gewalt und traumatische Erfahrungen in ihren Heimatländern und auf der Flucht nach Europa erlebt“, sagt Jayne Grimes, die das psychosoziale Programm von Ärzte ohne Grenzen auf Samos leitet. „Doch es sind die Lebensumstände auf den griechischen Inseln, die sie in Verzweiflung, Hoffnungslosigkeit und selbstverletzendes Verhalten treiben. Es ist eine Schande. Jeden Tag behandeln unsere Teams Patienten, die ihnen sagen, dass sie lieber in ihren Heimatländern gestorben wären als hier gefangen zu sein.“

Während des Sommers kamen pro Woche sechs bis sieben neue Patienten nach Selbstmordversuchen, Vorfällen von Selbstverletzung oder psychotischen Episoden mit akutem Behandlungsbedarf in die Klinik von Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos. Im Vergleich zu den vorangegangenen drei Monaten stieg die Zahl der Patienten in dieser Klinik um 50 Prozent.

Zwischen 50 und 70 Prozent der Gewaltvorfälle durch staatliche Behörden

Die psychische Belastung vieler Patienten und Patientinnen wurde durch Gewalterfahrungen verschlimmert, die sie auf dem Fluchtweg oder in Griechenland erlebt haben. Eine systematische Befragung von Geflüchteten durch Ärzte ohne Grenzen und die Forschungseinrichtung „Epicentre“ zu Beginn des Jahres auf Samos zeigt: Fast die Hälfte der Befragten hat in der Türkei Gewalt erfahren, und fast ein Viertel hat seit der Ankunft in Griechenland Gewalt erlebt. Personen, die nach dem EU-Türkei-Abkommen im März 2016 Samos erreichten, wurden häufiger zum Opfer von Gewalt in der Türkei und in Griechenland als diejenigen, die zuvor ankamen. Zwischen 50 und 70 Prozent der Gewaltvorfälle wurden laut den Berichten von staatlichen Autoritäten verübt.

„Die Menschen auf das Festland zu bringen, ist ein humanitärer Imperativ“, sagt Louise Roland-Gosselin von Ärzte ohne Grenzen in Griechenland. „Die EU-Staaten und die griechischen Behörden sind für dieses Leid direkt verantwortlich. Die extreme Verletzlichkeit der Menschen und das komplette Versagen aller Ankunftssysteme auf den Inseln lassen keine andere Maßnahme zu.“ Die psychosoziale Versorgung der Asylsuchenden, einschließlich psychiatrischer Behandlung, muss dringend ausgeweitet werden.

Ärzte ohne Grenzen arbeitet seit Juli 2015 auf Lesbos. Im Oktober 2016 eröffnete das Team in der Inselhauptstadt Mytilini eine Klinik für Asylsuchende, darunter Patienten und Patientinnen aus dem früheren EU-Hotspot Moria und dem Lager Kara Tepe. Die Klinik bot primäre Gesundheitsversorgung, gynäkologische und Mutter-Kind-Untersuchungen, psychische Behandlung und die Behandlung von chronischen Krankheiten an. Mittlerweile konzentriert sich das Team auf Überlebende von Folter, sexueller Gewalt und Patienten mit schweren psychischen Störungen und leistet ihnen medizinische wie psychologische Hilfe. Zwischen Januar und August 2017 hielt das Team von Ärzte ohne Grenzen auf Lesbos 2.100 allgemeinmedizinische Sprechstunden, 1.060 gynäkologische und Mutter-Kind-Untersuchungen und 1.270 klinisch-psychologische Beratungen ab.

Auf Samos betreibt Ärzte ohne Grenzen in Vathy eine temporäre Unterkunft für verletzliche Menschen, in der bis zu 80 Personen untergebracht werden können. Von Januar bis August 2017 hat das Team auf Samos 460 klinisch-psychologische Beratungen angeboten.

Der Bericht „Confronting the mental health emergency on Samos and Lesvos“ kann hier heruntergeladen werden.