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Wie man 1,5 Millionen Menschen vor Malaria schützt
Marcus Bachmann ist momentan als Einsatzleiter für Ärzte ohne Grenzen in Sierra Leone tätig, wo weiterhin Ebola wütet. In der Hauptstadt Freetown koordinierte er die Verteilung von Anti-Malaria-Medikamenten an 1,5 Millionen Menschen
– denn Malaria-Symptome ähneln stark Ebola im Frühstadium, was das ohnehin überlastete Gesundheitssystem vor ein enormes Problem stellt. Sein Tagebuch bietet Einblick in die Koordination der größten Verteilaktion, die jemals in Sierra Leone durchgeführt wurde.
27. November 2014
Ich bin gut angekommen in Freetown. Sobald ich die exotische (in diesem Fall tropische) Luft eingeatmet und meinen ersten Fuß auf den rissigen und schlaglochübersäten Asphalt des Flughafens gesetzt hatte, bin ich angekommen, und plötzlich ist die Motivation voll und ganz da – das ist bei mir eigentlich immer so.
Die geplante Medikamenten-Verteilaktion ist extrem ambitioniert: Wir hoffen, in den nächsten Tagen mehr als 6.000!!! neue Teammitglieder als Medikamente-Verteiler, Sensibilisatoren etc. zu rekrutieren. Wir arbeiten alle bis zum Anschlag, gestern Nacht die meisten bis fast 2 Uhr morgens! Morgen Früh gibt's allerdings ein Team-Meeting mit der Aufforderung an alle Mitarbeiter, sorgsam mit ihren Energien umzugehen.
28. November 2014
Jedes Mal, wenn ich jemandem unser Unterfangen schildere, 1.400.000 Menschen mit Malariamedikamenten zu erreichen, sehe ich in den Augen meiner Gesprächspartner eine Mischung aus Anerkennung und Belustigung. Könnt Ihr Euch die 6.000 Rucksäcke vorstellen, mit denen die Community Health Care Worker die Medikamente verteilen? Die kamen heute gemeinsam mit den 1.400.000 Dosen an: Vier Sattelschlepper voll mit Medikamenten. Alles brauchen wir in riesigen Mengen, 2.500 Sprayer für das Chlor zum Desinfizieren der Hände, usw.
29. November 2014
Für die Verteilaktion haben wir die Hauptstadtprovinz „Western Area“ in 30 Zonen eingeteilt, die wiederum in insgesamt 119 Untergebiete zerfallen, die wiederum je nach Größe auf 4 bis 56 Teams aufgeteilt sind. „Mass Drug Administration“ oder MDA bedeutet, dass vier Tage lang 2.500 Teams á 2 Mann/Frau von Haus zu Haus gehen, und die Malariamedikamente an die Hausbewohner verabreichen (idealerweise schlucken die ihre erste Dosis vor ihren Augen). Sie geben je einen Blister pro Person mit den Tabletten für drei Tage, je nach Altersgruppe (Babies, Kleinkinder, Jugendliche oder Erwachsene), müssen aber auch erklären, dass die Leute verstehen, warum und wie sie die Medikamente nehmen sollen. Jedes Team sollte pro Tag 30 Familien schaffen. Bei im Durchschnitt 6 Familienmitgliedern/Haushalt sollten sie 180 Behandlungen/Tag verteilen. 2500 Teams * 30 Familien* 6 Familienmitglieder * 4 Tage = 1.400.000 Behandlungen. In Theorie. Gestern kamen die Medikamente (ein ganzes Cargo-Flugzeug) am Flughafen an, heute haben wir sie aus dem Zoll geholt und nach Freetown gebracht. Drei internationale Logistiker und eine Pharmazeutin müssen in den kommenden 3 Tagen für 119 Untergebiete genau die benötigte Mengen vorbereiten, verpacken und dann per LKW ausliefern, damit die Verteiler ab 5. Dezember loslegen können.
Zurzeit ist unser Büro noch auf der Terrasse des Hotel Africanus, mit Blick über eine Bucht und auf die Löwenberge, die dem Land seinen Namen geben. Toll, solange es nicht regnet. Heute war ein heftiger plötzlicher Regenguss und wir mussten alle unsere Computer und Papiere ins Trockene retten.
Das Bild zeigt unsere „Einsatzzentrale“ unter der Palme, 25 internationale und ebenso viele nationale Mitarbeiter teilen sich das „Großraumbüro“. Es ist verrückt, versucht Euch einfach den Soundtrack vorzustellen, wenn abends fast alle 25 internationalen Mitarbeiter die Daten von den Verteilzentren telefonisch einholen © Marcus Bachmann/MSF
1. Dezember 2014
Heute haben wir 16 Stunden lang Medikamente für die ersten der 119 Verteilungsstützpunkte abgepackt, aber immer ist noch kein Ende in Sicht… Aber wenigstens stehen die ersten 5 LKWs vollbeladen für ihre morgige Tour im Hof. Es geht schon um 6 Uhr morgens los, denn ab 7 Uhr ist das Verkehrschaos in Freetown ein Wahnsinn. So schön die Stadt ist, sie wurde zu einer Zeit in diese Gebirgslandschaft „geklebt“ als man noch nicht über Autoverkehr nachgedacht hat.
Heute um Mitternacht haben wir auch kurz den Geburtstag von Maite, unserer Finanzkoordinatorin gefeiert. Mit Torte und Bier und nur angedeuteter Umarmung, da wir uns ja nicht berühren dürfen! Es war ein sehr berührender und “very Ebola”-Moment. Das Bier zur Torte erzählt auch von der Sehnsucht nach einem Moment des Loslassens.
Das Team ist wirklich fantastisch, heute haben meine Kolleginnen von der Verteilung vier Stunden lang wie in einem Call Center die Chefs der Verteilungsteams angerufen und nach Checkliste für morgen eingeschult und vorbereitet.
Eine Stunde Mittagspause und Lesen waren für mich das Wochenende, aber das ist für den Start eines Notfall-Einsatzes okay. Wenn wir die Medikamentenverteilung kommenden Freitag (dauert dann bis Montag) erfolgreich starten, und dann mit dem Bau des Ebola-Behandlungszentrums beginnen, dann haben wir schon einiges geschafft.
2. Dezember 2014
Die Vorbereitungen für die Medikamentenverteilung laufen gut. Morgen Früh werden die beiden letzten LKWs mit den Malariamedikamenten in die letzten 12 der 119 Verteilzentren aufbrechen. Wir haben bereits 2.500 Medikamentenverteiler geschult, in den nächsten 2 Tagen folgen noch einmal so viele. Und ich habe einen Boots-Charter auf eine malerische Insel bewilligt, damit auch die dort lebenden 1.400 Menschen in den Genuss unserer Kampagne kommen. Ich musste losen, weil jede(r) aus unserem internationalen Team auf der Insel arbeiten wollte.
6. Dezember 2014
Zumindest was das Wetter/Klima betrifft habe ich keinen Grund, mich zu beschweren, im Gegenteil: Ich sitze bei 28 Grad in unserem Terrassenbüro, es ist tropisch schwül, die Grillen zirpen, die Stadt rund um die Bucht liegt mir zu Füßen. Ich bin barfuß, kurzärmelig, rund um die Palme am Terrassenrand sind ein paar blinkende Lichtgirlanden gebunden - quasi als Einstimmung auf Weihnachten. Hier ist es kaum fassbar, dass das schon in ca. zwei Wochen sein wird. Nach meinen bisherigen Einsätzen liebe ich hier die Religionstoleranz: Obwohl überwiegend Muslims freuen sie sich schon auf Weihnachten, ihr zweitwichtigstes Fest.
Nun ist schon Tag zwei der Medikamenten-Distribution – es gibt viele Probleme, viel Troubleshooting, aber am wichtigsten ist es, nicht in Panik zu verfallen. Wir müssen unsere Lösungsenergien auf die wichtigen Aspekte lenken. Alles in allem läuft es gut.
Check der Checklisten! © Anna SURINYACH/MSF
Neben mir sitzen die medizinischen Kollegen, die um diese Nachtzeit immer noch mit Eingabe von Daten beschäftigt sind: Eine Pharmazeutin aus Griechenland, eine portugiesische Krankenschwester - zwei japanische Kolleginnen, die übrigens eine perfekte Inkarnationen des Zen sind (sie sitzen hier stoisch, scheinbar unberührt von allen Niederungen und Problemen dieses Einsatzes) und beide arbeiten unfassbar hart, what a team!
8. Dezember 2014
Wir haben heute Abend die 90% Prozentmarke deutlich überschritten: Das heißt, mehr als 1,4 Millionen Menschen haben wir bereits erreicht! Wir finden mehr Bevölkerung als die Statistik erwarten ließ, vor allem in den Slums. Morgen werden wir daher unsere strategische Reserve plus weitere Malariamedikamente, die ich heute noch vom Gesundheitsministerium auslieh, in einer Schlussoffensive verteilen. Ich rechne damit, dass wir dann 1,6 Millionen Menschen erreicht haben werden.
9. Dezember 2014
Es ist vollbracht! Es war ein Kraftakt. 1.533.000 Menschen in der Hauptstadtregion Sierra Leones (Western Area) haben Malariamedikamente bekommen, mit denen sie nun ein Monat lang vor Malaria geschützt sein werden. In den vergangenen vier Tagen gingen 5.000 Community Health Care Worker unterstützt von 700 Town Sensitizern und 300 Supervisoren und koordiniert von 11 internationalen Mitarbeitern von Haus zu Haus, von Tür zu Tür, von den Slums am Meer bis hinauf auf die Gipfel der Berge.
Die Bevölkerung war mehr als bereit, die Community Health Care Worker zu treffen, die Menschen blieben extra zu Hause, um die Medikamentenverteilung ja nicht zu verpassen. © Anna SURINYACH/MSF
Geplant für 1.400.000 Menschen mussten wir lernen, dass die tatsächliche Bevölkerungszahl viel höher liegt als angenommen. Gut, dass wir 10% Reserve eingeplant hatten, die nun praktisch vollständig verteilt wurde. Morgen beginnen wir, unsere 6.000 lokalen Mitarbeiter zu bezahlen, hat jemand Lust, uns zu helfen…?
Anfang Jänner werden wir noch eine zweite Runde machen, damit die Malaria-Hochsaison abgedeckt ist.
Seit März 2014 arbeitet Ärzte ohne Grenzen in Westafrika an der Eindämmung der Ebola-Epidemie. Derzeit ist die Organisation in Guinea, Liberia, Sierra Leone und Mali tätig. Die Organisation betreibt sechs Ebola-Behandlungszentren mit einer Gesamtkapazität von mehr als 600 Betten. Derzeit arbeiten rund 300 internationale und mehr als 3.100 nationale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den betroffenen Gebieten: Zur Aktivitätenübersicht
Weitere Beiträge von Marcus lesen:
Juli 2014 / Afghanistan: Wenn sich Patienten Betten teilen...
Jänner 2014 / ZAR: Inmitten der Gewalt in der Zentralafrikanischen Republik
August 2013 / Südsudan: Impfkampagne im Flüchtlingslager Batil
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