Wenn sich Patienten Betten teilen…

Kommentar von Emails aus dem Einsatz
07.07.2014

Der Osttiroler Marcus Bachmann ist seit Mai in der Provinz Helmand in Afghanistan als Projektkoordinator tätig. Das Provinzkrankenhaus der Provinzhauptstadt Lashkar Gah kämpft mit akutem Platzmangel – für 420.000 Einwohner stehen gerade einmal 250 Betten zur Verfügung. In seiner „Email aus dem Einsatz“ schildert er den Alltag im Krankenhaus. Höchste Zeit für ein Lebenszeichen! Gelebte Zeit hat ja ganz unterschiedliche Geschwindigkeiten, für mich sind meine ersten Tage in Helmand wie im Flug vergangen bei dem Versuch, meine Beine auf den Boden zu kriegen, mich in den komplexen und zugleich in jeder Hinsicht spannenden Kontext einzuarbeiten und natürlich das Projekt in den Griff zu bekommen. Afghanistan ist viel, viel besser als sein Ruf. Ich habe noch nie eine so große Diskrepanz zwischen bei uns medial vermittelter Wirklichkeit und der Realität vor Ort erlebt. Natürlich will ich nicht sagen, dass hier alles friedlich läuft und es hier perfekt sicher ist. Aber wir haben sehr viele Sicherheitsmaßnahmen getroffen. Es war sehr bewegend, als wir vorgestern der Kollegen gedachten, die vor 10 Jahren in Afghanistan ihr Leben verloren. Nach diesem Mordanschlag, bei dem die Angreifer weder verhaftet noch seitens der Regierung öffentlich eine Festnahme verlangt wurde, war Ärzte ohne Grenzen gezwungen, Afghanistan noch im selben Jahr zu verlassen. Auf Grund der wachsenden und massiven medizinischen Bedürfnisse im Land entschied sich Ärzte ohne Grenzen allerdings fünf Jahre später, in das Land zurückzukehren: Das Krankenhaus in Lashkar Gah war 2009 das zweite Projekt, das eröffnet wurde.

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(c) Paula Bronstein, Reportage by Getty Image

Wir betreiben hier das einzige Spital der Provinz Helmand mit 250 Betten für ein Einzugsgebiet von 420.000 Menschen, die gesamte Provinz zählt mehr als 1 Million Einwohner. Ein Ziel ist es, eine Bettenauslastung von 100% bzw. bestenfalls 80% zu erreichen – um für Notsituationen einen Puffer zu haben. Allerdings kommen wir „von oben“, denn derzeit haben wir Auslastungen von weit über 100%. In vielen Fällen müssen sich Patienten ein Bett teilen, die Gänge sind voll, wir haben Patienten auf Tragbahren. Eine der vielen täglichen Herausforderungen ist es, den richtigen Krankenakt dem richtigen Patienten im gleichen Bett zuzuordnen! Ihr könnt Euch gar nicht vorstellen, wie voll das Krankenhaus ist. Im Monat haben wir z.B. 1.000 Geburten, doppelt so viel wie das Lienzer Krankenhaus in einem Jahr. Unsere Neugeborenen-Intensivstation platzt mit 30 Babies aus allen Nähten, in jedem Brutkasten liegen drei Babies. In unserem "Emergency Room", der Notaufnahme, sehen wir 5.000 Patienten im Monat, viele mit schrecklichen Traumata und Verbrennungen. Gerade eben haben wir drei große Bauprojekte begonnen, um die Kapazität zu erweitern. Mein Lieblingsprojekt ist die Verdopplung der Kapazität der Geburtshilfestation, die ganz toll werden wird. Mit mir arbeiten 20 internationale und 620 nationale Mitarbeiter, das ist schon ein riesiger Betrieb. Wir arbeiten hier mit dem Gesundheitsministerium zusammen – gar nicht so leicht zu managen, da hier die Kultur der Geschlechtertrennung besonders streng ist: Zum Beispiel müssen alle Abteilungen gedoppelt werden, damit Männer und Frauen sich nie in gleichen Räumen aufhalten – männliche Patienten dürfen nur von Männern, weibliche nur von Frauen behandelt werden. Wir haben getrennte Eingänge, getrennte Warteräume usw. Selbst wenn wir zur Arbeit fahren, sitzen wir internationalen Einsatzmitarbeiter nach Geschlechtern getrennt in verschiedenen Landcruisern. Einzige Ausnahme bin ich, der ich vorne im Damenfahrzeug sitze, um sie zu beschützen… Jetzt ist es hier bei uns sommerlich heiß mit Temperaturen um die 40 – 45 Grad, aber in den Nächten fällt die Temperatur auf angenehme 20 Grad, Lashkar Gah liegt ja am Rande einer Wüste: Wir leben in einer Unterkunft aus vielen ineinander geschachtelten Häusern, fast wie ein kleines Dorf. Wir haben nette Gärten mit Rosen, Weinreben, Melonen, recht weitläufig. Und wenn der Imam fünfmal am Tag zum Gebet ruft, dann beginne ich mich schon fast ein wenig daheim zu fühlen – denn das hatte ich in so vielen Projekten davor auch. Fast schon eine kleine Idylle. Besonderes Highlight sind die Menschen hier, unglaublich freundlich, herzlich und wirklich faszinierend. Sie leben ein extrem hartes Leben hier, viele kennen nur Krieg, und dennoch sind sie beeindruckend starke Charaktere. Soviel ich kann bin ich auf den Stationen, um mit den Menschen zu sprechen. Als ich heute eine neue Kollegin einschulte, viel mir auf, dass ich erstmals "mein" Projekt sagte. Ich bin – ganz offenbar – in Afghanistan angekommen. Sehr viel Arbeit, viel Stress, aber viel Spaß. Bald schon mehr, versprochen!

Marcus Bachmann ist Experte für Qualitäts- und Prozessmanagement mit jahrelanger Berufserfahrung in der pharmazeutischen Industrie. Auf einen ersten Einsatz mit Ärzte ohne Grenzen als Logistiker und Administrator in der zentralasiatischen Republik Kirgisistan folgten weitere im Südsudan, der Zentralafrikanischen Republik, der Demokratischen Republik Kongo und Bangladesch, wo er unter anderem die Hilfseinsätze nach Cholera-Ausbrüchen koordinierte. Weitere "Emails aus dem Einsatz" von Marcus Bachmann: August 2013 | Impfkampagne im Flüchtlingslager Batil Januar 2014 | Inmitten der Gewalt in der Zentralafrikanischen Republik

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08.07.2014
09:12
Wolfgang Wernhart

Hallo Marcus!
Freut mich, von dir zu lesen und dass es dir gut geht. Alles Gute und weiterhin viel Kraft für deine heldenhaften Einsätze.
Vielleicht sieht man sich ja mal wieder, wenn du mal im Lande weilst...

LG WW

07.07.2014
14:51
Sigrid Kopp

Hallo Marcus! herzliche grüße aus CAR! toller Bericht und endlich nicht nur grausam und negativ. braucht ihr ne Hebamme? ich bin EoM in 2 Wochen ...! Paßt auf euch auf!

22.07.2014
16:29
christa rabeck

Lieber Marcus!
Bitte richte dem Laborpersonal im Boost Hospital meien besten Wünsche aus .Vielleicht können sie sich noch an mich erinnern.Und natürlich auch dem Spitalsdirektor.
Ich war 2010 dort .und habe die Menschen schätzen gelernt.
Christa Rabeck die labortechnikerin.

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