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Moria: „Ich kann mich nicht an gebrochene Kinderseelen gewöhnen“
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Wie sieht das Leben von Kindern und Jugendlichen im Geflüchtetenlager Moria auf der griechischen Insel Lesbos wirklich aus? Welche Auswirkungen haben die prekären Lebensbedingungen auf ihre psychische Gesundheit? Unsere Psychologin Katerina Srahulkova beschreibt, wie sie Kinder bei der Traumabewältigung begleitet – und auf der Suche nach Hoffnung.
Die Zeit verfliegt. Ich bin seit fast einem halben Jahr hier. „Hier“ bedeutet in der Kinderklinik von Ärzte ohne Grenzen im Geflüchtetenlager Moria in Griechenland. Ich bin hauptsächlich für die psychologische Betreuung von Kindern zuständig, obwohl ich auch manchmal Therapiegespräche mit Eltern habe und eine Selbsthilfegruppe für Mütter leite.
Nur damit Sie einen Eindruck der entsetzlichen Bedingungen hier bekommen: Das Lager in Moria war ursprünglich für etwa 3.000 Personen ausgerichtet. Im Juli 2020 sitzen hier aber 17.000 Menschen fest. Die meisten von ihnen – rund 14.000 – leben außerhalb der Grenzen des eigentlichen Lagers.
Mit der Zeit betreue ich immer mehr Kinder, die sich selbst verletzen oder Selbstmordgedanken haben. Der Mangel an Aktivitäten, die durch die COVID-19-Schutzmaßnahmen extrem eingeschränkt sind, trägt dazu bei. Die Dauer des Aufenthalts der Kinder im Lager wirkt sich auch aus – viele von ihnen sind seit Monaten hier.
„Unbegleitet“
Viele unserer Patient:innen in der Kinderklinik sind „unbegleitete Minderjährige“: Kinder unter 18 Jahren, die keine erwachsene Begleitperson haben, die auf sie aufpasst.
Manchmal sind die Eltern der Kinder gestorben oder sie sind in ihren Heimatländern verschwunden und werden vermisst – Länder, wo Krieg und Konflikt herrschen.
Manchmal sind die Eltern am Leben und sie haben es geschafft, das nötige Geld zusammenzubekommen, um zumindest ihr Kind an einen Ort zu schicken, von dem sie hoffen, dass er sicherer ist.
Die meisten der unbegleiteten Minderjährigen sind Jungen aus Afghanistan. Sie erzählen mir, dass ihre Familien ein Mädchen nicht allein losziehen lassen würden, und dass Mädchen das auch nicht wagen würden - wegen des Risikos, als allein reisendes Mädchen Gewalt ausgesetzt zu sein.
Leider haben aber auch die meisten der Jungen Gewalt auf ihrer Reise oder nach ihrer Ankunft hier erlebt, einschließlich sexueller Gewalt.
Ernsthafte Selbstverletzung und Selbstmordgedanken sind bei ihnen weitverbreitet.
Den Schmerz kontrollieren
Kinder hier, die ihren Körpern Schnitte zufügen, sagen oft, dass sie einen tiefen inneren Schmerz spüren, den sie nicht kontrollieren können.
Wenn sie sich ritzen, übernehmen sie die Kontrolle über ihren Schmerz. Sie haben den Schmerz durch den Schnitt hervorgerufen, er ist nicht von selbst aufgetreten.
Körperlicher Schmerz kann helfen, seelische Schmerzen zu betäuben.
Langes Warten
Ich betreue, seit ich hier angekommen bin, einen Jugendlichen wegen ernsthafter Selbstverletzungen. Er hat sich selbst mehrmals Schnitte zugefügt. Er ist allein hier, ohne einen Erwachsenen – sein Vater ist gestorben, seine Mutter ist in seinem Heimatland geblieben, das viele Jahre der Gewalt durchlebt hat.
Einige Monate hat er außerhalb des offiziellen Lagers in dem sogenannten „Dschungel“ gelebt, allein, in der Kälte, sogar ohne Zelt.
Nach ein paar Monaten konnte er zum Glück in den für männliche Jugendliche vorgesehenen Bereich des Lagers umziehen. Jetzt geht es ihm manchmal besser, manchmal schlechter. Die letzten paar Tage sind äußerst schwierig gewesen. Er hat mich diese Woche mehrmals aufgesucht, einmal mit einem Schnitt, der so tief war, dass die Ärzt:innen die Wunde nähen mussten.
Er zählt die Tage, die er hier verbringt.
Er ist siebzehn und hat Angst, dass er niemals von hier wegkommt und dass er aus dem Abschnitt des Lagers für Jugendliche rausgeworfen wird, sobald er achtzehn ist. Er wartet darauf, dass die Behörden ihn auf das griechische Festland bringen, wo unbegleitete Jugendliche versorgt werden sollen, damit sie zur Schule gehen und sich darauf vorbereiten können, sich in die Gesellschaft zu integrieren.
Er wartet seit neun Monaten.
Ein roter Stempel
Ein Mädchen, das sowohl in ihrem Heimatland, als auch auf dem Weg hierher vergewaltigt wurde, kommt regelmäßig zur Betreuung. Ich erwähne ihre Nationalität lieber nicht, um ihre Privatsphäre zu schützen. Also sage ich nur, dass sie aus Afrika kommt.
Sie hat im Büro der Einwanderungsbehörde einen roten Stempel [in ihren Ausweis] bekommen, was bedeutet, dass sie die Insel nicht verlassen darf. Der nächste Termin für ihr Asylverfahren ist im Juli 2021 – in einem Jahr.
Sie hat wiederkehrende Albträume.
[…] Wir sprechen darüber, welche Sicherheitsmaßnahmen sie umsetzen und wie sie sich schützen kann. Es ist nicht viel – das Zelt am Abend nicht verlassen, nicht einmal, um zur Toilette zu gehen, und so oft wie möglich in Begleitung anderer Mädchen sein.
Sie hat ein Lebensziel: Sie möchte Nonne werden. Sie hat aber Angst, zu viel darüber zu sprechen, weil sie fürchtet, dass ihr Wunsch dann nicht in Erfüllung geht.
Hoffnungsvolle Momente
Mit einem anderen Jugendlichen aus Afrika erlebe ich hoffnungsvollere Momente.
In unserem ersten Gespräch wirkte er abwesend und hatte die Kapuze seines Sweatshirts die ganze Zeit über den Kopf gezogen. Er erzählte davon, was ihm in seinem Herkunftsland zugestoßen war: Traumatische Ereignisse, darunter der Tod seiner Eltern und Geschwister und auch Gewalt gegen ihn selbst.
Langsam entspannt er sich etwas mehr. Er nimmt jetzt seine Kapuze vom Kopf und sieht mir in die Augen. Der Augenkontakt ist am stärksten, wenn er über Fußball spricht. Er lacht sogar, wenn er über Fußball spricht.
Er hat aber noch immer Albträume, und er hat Angst, auch nur über sie zu sprechen.
Er hat Angst vor anderen Jugendlichen, deshalb spricht er lieber mit niemandem. Aber er hat einen Freund – einen anderen Jungen aus seinem Heimatland.
Sein Englisch wird immer besser, was bedeutet, dass er mit den Menschen, die diesen Abschnitt des Lagers verwalten, sprechen und seine Bedürfnisse oder seine Meinung zum Ausdruck bringen kann.
Von Albträumen überwältigt
Einem Buben, der wiederholt darüber gesprochen hat, sich umzubringen, scheint es auch besser zu gehen.
Er kommt aus einem Land, das von einem ausgedehnten Krieg und Konflikten gezeichnet ist. Wir glauben, gemeinsam den Grund dafür entdeckt zu haben, wieso er diesen Wunsch oder dieses Bedürfnis hat, sich das Leben zu nehmen.
Er hat Albträume, in denen jemand ins Zelt kommt und seine gesamte Familie töten will, nur ihn nicht. Deshalb muss er sich selbst umbringen.
Wir versuchen, den Traum zu verarbeiten, das, was darin geschieht, und wir überlegen, wie er tagsüber damit umgehen kann. Er wird von Gedanken daran beherrscht, wie er seine Familie beschützen kann.
Er reagiert sehr positiv auf all meine Vorschläge, aber er sagt auch, dass er weiß, dass es tatsächlich vorgekommen ist: Jemand wurde im Lager erstochen. Er erzählt auch, dass ein Dieb in ihr Zelt eingestiegen ist und Dinge gestohlen hat.
Ich sage mir selbst: Gemeinsam können wir Albträume bekämpfen, aber gegen die Gewalt im Lager komme ich wohl kaum an.
Leere Tage ohne Aktivitäten
Diese Jugendlichen sind meine Langzeitpatient:innen. Aber es kommen auch neue Familien und Kinder zu uns, die psychologische Betreuung brauchen. Ein Beispiel sind zwei Mädchen aus einem Land, in dem seit Jahrzehnten ein Konflikt herrscht. Schwestern. Beide junge Teenager.
Sie leben seit mehreren Monaten mit ihren Eltern im Lager. Mehrere Monate mit langen, leeren Tagen ohne Schule oder Aktivitäten.
Die Jüngere hält durch, indem sie sich selbst verletzt, und die Ältere schmiedet Selbstmordpläne. Keine der beiden glaubt, jemals von Moria wegzukommen.
Ihre Mutter leidet auch unter ernsthaften psychischen Gesundheitsproblemen und kann den Mädchen deshalb nicht die Unterstützung geben, die sie brauchen. Ich bin auf der Suche nach einer Psychiaterin und einer Sozialarbeiterin für sie, aber die Wartezeiten sind überall extrem lang. Deswegen müssen wir mit der Situation vorläufig allein zurechtkommen.
Weg von der Insel
Ich betreue auch einen 15-Jährigen, der ohne Erwachsene hier ist, und der anfangs nicht im Abschnitt für Kinder untergebracht war. Er kam zu uns, nachdem er einen Vergewaltigungsversuch überlebt hatte.
Dank der sofortigen Hilfe von Sozialarbeiter:innen wurde er in den Bereich für schutzbedürftige Kinder verlegt, aber das hat seine Probleme nicht gelöst. Im Gegenteil: Er bekam schwere Panikattacken und begann, über Erfahrungen mit sexueller Gewalt in seiner Vergangenheit zu sprechen.
Er muss von der Insel weg und auf dem Festland in Sicherheit gebracht werden, wo er die Hilfe bekommen sollte, die er braucht. Aber wir warten noch immer auf diese Möglichkeit.
Gebrochene Seelen
Die Tage vergehen unglaublich schnell. Ich habe mich daran gewöhnt, Dinge zu sehen, die mir früher unmöglich erschienen wären.
Ich habe mich daran gewöhnt, im Winter Kinder und Erwachsene zu sehen, die bei eisigen Temperaturen nur in Flipflops, sogar ohne Socken, herumlaufen.
Ich habe mich daran gewöhnt, im Sommer über Kakerlaken und Ratten zu sprechen, die in den Zelten der Kinder herumlaufen.
Ich reagiere kaum noch auf die Krätze, unter der viele der Kinder und Erwachsene leiden.
Schmutz ist zu erwarten. Insbesondere an Tagen, an denen es viel regnet (was oft vorkommt), muss es unglaublich schwierig für Eltern sein, ihre Kinder sauber zu halten.
Woran ich mich nicht gewöhnen kann, ist, über die Gewalt zu sprechen, die unsere Kinder hier erfahren haben, über die Leere und den Schmerz, den sie fühlen.
Ich kann mich einfach nicht an gebrochene Kinderseelen gewöhnen.
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Zur Autorin:
Unsere Psychologin Katerina Srahulkova betreut Kinder, Jugendliche und Eltern, die im Geflüchtetenlager in Moria auf der griechischen Insel Lesbos leben.
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