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Im Krieg aufwachsen: Mangelernährung bei Kindern im Jemen
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Seit Anfang des Jahres behandelt Ärzte ohne Grenzen immer mehr schwer unter- und mangelernährte Patientinnen und Patienten im Krankenhaus Abs, das im Gouvernement Hajjah im Nordwesten des Jemen liegt. Das therapeutische Ernährungszentrum hier hat eine stationäre Abteilung mit 50 Betten. Während es jährlich immer wieder Höchstwerte an Mangelernährung gibt, sind die Fälle 2020 gegenüber dem Vorjahreszeitraum (Juni - Dezember 2019) in den gleichen sechs Monaten um 41 Prozent gestiegen. Schwere Mangelernährung ist mit einer Vielzahl anderer Gesundheitsprobleme verbunden, die für Babys und Kleinkinder tödlich sein können, wenn sie nicht behandelt werden.
Ein Augenzeugenbericht von Muriel Boursier, Einsatzleiterin von Ärzte ohne Grenzen im Jemen:
Hamdi ist noch keine zwei Jahre alt, aber er ist bereits zum zweiten Mal als Patient in unserem Krankenhaus hier in Abs, im Norden des Jemen. Bei seinem ersten Aufenthalt war er fünf Monate alt. Jetzt, etwas mehr als ein Jahr später, leidet er unter schwerer Mangelernährung und Lungenentzündung. Seine Augenlider sind angeschwollen, er hustet durchgehend und kann nur schwer atmen. Seine Familie lebt im Jemen, einem Land, das die letzten sechs Jahren von Krieg beherrscht wurde. Er kennt gar nichts anderes.
Ohne humanitäre Hilfe würden viele Familien gar nichts mehr zu essen haben.
Hamdi ist eines von mehr als hundert Kindern, die Ärzte ohne Grenzen im therapeutischen Ernährungszentrum in Abs seit Jahresbeginn behandelt hat. Der Großteil von ihnen ist unter fünf Jahre alt, und sie alle leiden unter schwerer Mangelernährung. Um diese Jahreszeit sehen wir normalerweise immer einen Anstieg an Mangelernährung in unseren Krankenhäusern, aber heuer ist es schlimmer: Die Fälle sind um 41 Prozent höher als im gleichen Zeitraum von sechs Monaten im letzten Jahr. Es ist furchtbar mitanzusehen, wie es den Kindern geht, die in dieser abgelegenen Stadt im Krankenhaus aufgenommen werden.
Der Krieg hat den Menschen alles genommen
Es gibt viele Gründe, warum diese Kinder in Abs an Mangelernährung leiden, aber die meisten sind auf diesen brutalen seit sechs Jahren andauernden Konflikt zurückzuführen, der seit 2015 im Jemen herrscht. Der Krieg hat die Wirtschaft zerstört und damit die Lebensgrundlage für viele Menschen. Sie können sich kein Essen mehr leisten, um ihre Familien zu ernähren, oder kein Benzin, um zur Arbeit zu fahren oder Gesundheitsversorgung in Anspruch zu nehmen. Viele Angestellte im öffentlichen Dienst – darunter auch Gesundheitspersonal – wurden seit Jahren nicht bezahlt. Währenddessen steigen die Preise kontinuierlich: ohne humanitäre Hilfe würden viele Familien gar nichts mehr zu essen haben.
Der Großteil der jemenitischen Bevölkerung ist auf humanitäre Hilfe angewiesen, um zu überleben. Es ist aber für die Hilfsorganisationen eine große Herausforderung, viele der besonders Schutzbedürftigen überhaupt zu erreichen. Die humanitäre Hilfe im Jemen ist oft nicht durchgehend möglich, ist unzureichend und auch unterfinanziert.
Ernährungsprogramme würden Leben retten
Ärzte ohne Grenzen ist seit mehr als fünf Jahren in Abs im Einsatz. Es bräuchte hier dringend durchgehende und nachhaltige Ernährungsprogramme und einen verbesserten Zugang zu Wasserversorgung in den Lagern für intern vertriebene Menschen sowie in den dörflichen Strukturen. Derzeit ist die Zahl der Patientinnen und Patienten, die wir behandeln, oft größer als die Kapazitäten des Krankenhauses.
Die Welt ist mit anderen Prioritäten beschäftigt, aber es fällt schwer zu glauben, dass die Regierungen und humanitäre Akteure im 21. Jahrhundert nicht mehr für die Kinder in Abs tun könnten.
Durch Mangelernährung werden die Kinder anfällig für zahlreiche weitere Krankheiten, die zum Tod führen können, wenn sie nicht behandelt werden. Durchfall- oder Atemwegserkrankungen und Masern fallen für viele Kinder weltweit unter „normale Kinderkrankheiten“, können aber für ohnehin bereits geschwächte Kinder, die nicht ausreichend Nährstoffe zu sich nehmen, lebensgefährlich werden – vor allem, wenn sie nicht rechtzeitig ins Spital kommen. Hier fehlt es auch am Zugang zu niederschwelliger Gesundheitsversorgung, da die Strukturen zerstört sind.
Vielen Kindern geht es wie Hamdi
Von den tausenden Patientinnen und Patienten, die wir im Krankenhaus in Abs jedes Jahr behandeln, ist Hamdis Geschichte leider keine außergewöhnliche. Alle Eltern von Kindern hier machen sich große Sorgen wegen der schlechten wirtschaftlichen Situation: Väter sind tagelang auf der Suche nach Arbeit, um Essen und Benzin kaufen zu können. Mütter versuchen ihr bestes um die Familien zu ernähren, aber trotz aller Versuche bleiben haben viele Kinder zu wenig zu essen. Obwohl immer wieder darüber berichtet wird, ändert sich vor Ort kaum etwas. Die Welt ist mit anderen Prioritäten beschäftigt, aber es fällt schwer zu glauben, dass die Regierungen und humanitäre Akteure im 21. Jahrhundert nicht mehr für die Kinder in Abs tun könnten.
Die Menschen im Jemen stoßen bis an die Grenzen ihrer Widerstandsfähigkeit. Rund 233.000 Menschen sind seit 2015 im Krieg gestorben und Millionen Menschen wurden, oft mehrmals, aus ihrer Heimat vertrieben. Durch die Gewalt wurde die Infrastruktur, besonders auch das Gesundheitssystem, zerstört. Die Zivilbevölkerung kann so nicht mehr weitermachen. Alle Konfliktparteien, die internationale Gebergemeinschaft und humanitäre Organisationen müssen sicherstellen, dass die Menschen Zugang zu Nahrungsmitteln und lebensnotwendigen Leistungen haben und dass die humanitäre Hilfe jene erreicht, die diese am dringendsten benötigen. Jene Kinder, die wir im Krankenhaus in Abs behandeln, die gegen alle Widrigkeiten schwere Mangelernährung, Herzkrankheiten, Lungenentzündungen und andere Krankheiten überleben, dürfen wir nicht im Stich lassen.
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