Kommentar von Laura Leyser
22.03.2022
Wann „darf“ man angesichts des Leids in der Ukraine als Hilfsorganisation beginnen, wieder über andere humanitäre Anliegen zu sprechen? Unsere Geschäftsführerin Laura Leyser teilt ihre Gedanken.

Als am 24. Feber die ersten russischen Bomben auf ukrainische Städte fielen, war ich gerade in der Elfenbeinküste, um einen Blick auf die Zukunft von Ärzte ohne Grenzen zu werfen. Wir haben dort ein wegweisendes Projekt gestartet, in dem Schwangere in abgelegenen Dörfern dank Telemedizin Zugang zu hochwertiger Gesundheitsversorgung erhalten. Auch haben wir dort kürzlich eine weitere Einsatzzentrale gegründet, die erste außerhalb Europas. Also zwei gute Anlässe für einen Lokalaugenschein.

"Plötzlich schien das alles nicht mehr so wichtig."

Ich kann mich genau an meine ersten Gedanken erinnern, als ich vom Krieg in Europa erfuhr: Was mache ich hier, während in unmittelbarer Nähe meiner Heimat ein Krieg tobt? Ähnliche Reaktionen kamen aus anderen Krisengebieten von Kolleg:innen, mit denen ich in Kontakt bin: 

Sollte ich jetzt nicht besser in der Ukraine sein, um dort zu helfen? 

Der Projektbesuch war nur für wenige Tage angesetzt und so kam ich eine Woche nach Kriegsbeginn wieder in Wien an. Unsere neutrale und unabhängige Nothilfe in der Ukraine lief bereits an, in den Nachbarländern – auch in Russland und Belarus – waren Teams dabei, den Bedarf an humanitärer Hilfe für Geflüchtete zu prüfen. Inzwischen ist unser Noteinsatz angelaufen – auch wenn unser Beitrag angesichts des enormen Ausmaßes und der Brutalität dieses Krieges viel zu gering ist. 

Ein Dilemma

Nach einem Monat voller Live-Ticker, Sondersendungen und Kriegs-Schlagzeilen – aber auch des Zusammenrückens und der Solidarität – bekomme ich ein beklemmendes Gefühl. Denn eines ist klar: Die Menschen in der Ukraine werden noch lange unsere Hilfe und unsere Aufmerksamkeit brauchen. Was bedeutet das aber für Menschen in anderen Konflikten? Für die jetzt nur wenig Platz vorhanden ist in unseren Köpfen? Wann ist für uns als Hilfsorganisation der richtige Zeitpunkt, wieder mehr darüber zu reden, was wir in anderen Einsatzgebieten sehen?

Das stellt uns vor ein echtes Dilemma.

Das letzte, was wir wollen, ist Leid gegeneinander aufzuwiegen.

Wir wollen kein „Whataboutism“ betreiben: „Der Ukraine-Krieg ist schlimm, aber was ist mit…?“. 

Fakt ist jedoch: Wir sind eine globale medizinische Hilfsorganisation, und aktuell sind mehr als 60.000 Kolleg:innen in über 70 Ländern für uns im Einsatz. Oder besser: Für Menschen in Not. Denn zu unseren Einsatzgebieten gehören die härtesten, aber auch die „unsichtbarsten“ Krisengebiete dieser Welt. Wie die Demokratische Republik Kongo, eines unserer größten Einsatzländer, wo wir trotz des enormen Bedarfs gerade zwei Projekte aus Sicherheitsgründen schließen mussten. Oder Afghanistan, wo nicht nur eine massive Hungerkrise herrscht, sondern auch ein Masernausbruch wütet. Oder der Jemen, Myanmar, der Südsudan, Haiti. 

Témoignage

Unsere Hilfe in all diesen Ländern geht weiter, sie braucht Aufmerksamkeit. Diese zu erzeugen, sehen wir als eine wichtige Aufgabe. Wir sind eine Organisation, die von Ärzten und Journalisten gegründet wurde, daher steckt das tief in unserer DNA. Wir nennen das „témoignage“ oder „speaking out“, was bedeutet: Wir berichten, was wir in Krisengebieten sehen, und wollen dadurch öffentlichen Druck erzeugen, der dazu beiträgt, die Situation zu verbessern. 

Das bringt mich zurück zu unserem Dilemma. Wenn die ganze Welt zur Ukraine schaut, gibt es wenig Platz für anderes Leid, andere Krisen. Und wo die Aufmerksamkeit fehlt, fehlt der Druck – für Verbesserung, für Veränderung, für mehr Hilfe. Wann „darf“ man angesichts des Leids in der Ukraine aber beginnen, über andere humanitäre Anliegen zu sprechen – ohne den Betroffenen des Krieges in unserer unmittelbaren Nachbarschaft Unrecht zu tun?

Ganz ehrlich – ich weiß es nicht. Wir wissen es nicht. Aber wir werden behutsam damit beginnen. Auf unseren Social-Media-Kanälen, auf dieser Website, im Austausch mit Journalist:innen und Unterstützer:innen. 

Wir werden natürlich weiter darüber berichten, was wir in der Ukraine sehen – aber wir werden eben zugleich auch aufzeigen, was wir in Afghanistan, dem Kongo oder dem Jemen bezeugen. Und nehmen uns fest vor, auch über Lichtblicke zu sprechen – denn gerade in düsteren Zeiten wie diesen brauchen wir alle ab und zu einen Hoffnungsschimmer. Und ein solcher ist auch unsere Arbeit in der Elfenbeinküste – ich freue mich bereits, darüber zu berichten, wie unser Team dort dazu beiträgt, die hohe Müttersterblichkeit zu senken. So gesehen war ich am 24. Feber dann eigentlich doch genau am richtigen Ort.