Aruzas beeindruckender Start ins Leben

Kommentar von
06.11.2020
Kinderarzt Jakob Krösslhuber erzählt die Geschichte von Aruza, die trotz schwerer Startbedingungen nicht aufgibt.

Der Tiroler Kinderarzt, Jakob Krösslhuber, ist gerade auf Einsatz mit Ärzte ohne Grenzen in Pakistan. Dort ist er auf der Neonatologie in Peschawar, im Norden des Landes, tätig. Immer wieder begegnen ihm dort ganz besondere kleine Menschen. Das ist die Geschichte einer Patientin mit besonders starkem Lebenswillen: 

Hier in Peschawar im Woman Hospital, in dem ich gerade als Kinderarzt an der Neugeborenenstation arbeite, ereignen sich immer wieder beindruckende Geschichten, so wie diese von Aruza, einer kleinen, aber zähen Kämpferin. Den Namen habe ich mir übrigens ausgedacht, um die Identität des Mädchens zu schützen. 

Tag 1

Eine mehrfache Mutter kam nach einer stundenlangen Anreise aus dem Hinterland bereits mit Wehen in unserem Krankenhaus an. Trotz fehlender Vorsorgeuntersuchung war auch diesmal keine Komplikation zu erwarten. Doch schon bei der Aufnahme war klar, dass die Geburt doch nicht so komplikationslos ablaufen würde, denn das Fruchtwasser war grün verfärbt und die Blase schon vor 18 Stunden gesprungen. Die Gefahr einer Infektion war groß. Die Geburt selbst verlief schnell und unkompliziert. Vorsorglich wurde ein pakistanischer Kinderarzt zur Geburt gerufen. Erfreulicherweise war das Kind nach der Geburt gesund und vital, es konnte auch gleich der Mutter übergeben werden und wir planten für den nächsten Tag die Entlassung.  

Aber es kam ganz anders. Nach zwei Stunden verschlechterte sich der Zustand des Kinds. Es konnte die Körpertemperatur nicht halten und kühlte ab. Die Atmung wurde schneller und mühsamer. Es bestand der dringende Verdacht einer Infektion, also begannen wir eine antibiotische Therapie, verabreichten Sauerstoff und wärmten es mit einem Heizstrahler. Doch die Atmung besserte sich leider nicht und die kleinen Lungen konnten nicht mehr genügend Sauerstoff aufnehmen.
 
Nach sechs Stunden auf der Neugeborenenstation war die Behandlung mit CPAP (Continuous Positive Airway Pressure) die letzte Möglichkeit. Dabei wird ein erhöhter Druck auf die Lungenbläschen ausgeübt, die sich dadurch besser öffnen und somit kann mehr Sauerstoff aufgenommen werden. Trotz der Einfachheit des CPAP-Prinzips ist es keine Maßnahme, welche immer und überall angewendet werden kann, denn das Personal muss entsprechend geschult werden und die Maschinen brauchen eine regelmäßige Wartung. 

Tag 2

Am nächsten Tag  mussten wir mehr und mehr den Sauerstoff und den Druck auf die Lunge erhöhen, damit stieg leider auch das Risiko von Komplikationen. Wir waren am Ende unserer Möglichkeiten. In Europa würde man jetzt intubieren und  maschinell beatmen, aber das ist in Peshawar nicht möglich.

Schwere Tage standen uns und vor allem der kleinen Aruza bevor. Obwohl wir uns bemühten, die beste Position für sie zu finden, mit der ihr die Atmung am leichtesten fiel, mussten wir doch mit ansehen, wie sie sich Minute für Minute, Stunde um Stunde mit der Atmung abmühte. Sehr schnell, bis neunzig Mal in der Minute, atmete sie und es war sichtlich anstrengend. Die Arme oder Beine bewegte sie kaum mehr, der ganze Körper war nur noch mit atmen beschäftigt. Um die Lunge so gut wie möglich zu öffnen und um Druckstellen an der Haut zu vermeiden, legten wir sie immer wieder um. Zum Saugen fehlte die Kraft, also bekam sie nur wenig Muttermilch und erhielt dafür Flüssigkeit,  Zucker und Antibiotika intravenös. Die liebevolle Pflege der Krankenpflegerinnen ermöglichte ein ruhiges und stressfreies Umfeld.

Diese Phase war äußerst kritisch, niemand konnte sagen in welche Richtung es gehen würde. Wie lange würde sie diese Anstrengung noch aushalten? Würde sich die Nase verlegen und wir könnten ihr nicht mehr genügend Sauerstoff geben? Würden die Lungenbläschen durch den sehrhohen Druck platzen? Oder würde sie sich doch bald erholen? 

Tag 4

Das Team leistete hervorragende Arbeit. Behutsam wurde an der kleinen Patientin hantiert, die Nase gepflegt und zunehmend mehr Nahrung verabreicht. Keine Druckstelle entstand, keine verstopfte Nase. Nach vier Tagen zeigte sich endlich die erhoffte Verbesserung. Sie atmete langsamer, begann sich mehr zu bewegen. Von Tag zu Tag wurde die Stimme der kleinen Patientin kräftiger und die Lebensgeister erwachten erneut. Es war eine Erleichterung zu sehen, dass es aufwärts ging.

Tag 13

Tag für Tag verringerte sich der Sauerstoffbedarf und nach 13 Tagen benötigte sie keinen zusätzlichen Sauerstoff mehr. Bald danach konnten wir die kleine Patientin gesund aus unserem Krankenhaus entlassen. 

 

Die Neugeborenen Abteilung in der Klinik in Peshawar.
Jakob Krösslhuber
Nach einigen Tagen der Ungewissheit, bereitet sich Aruza auf die Entlassung in ihr neues Zu Hause vor. Die Strapazen der letzten Tage lässt sie sich nicht anmerken.

Lange waren wir uns nicht sicher, ob es gut ausgehen würde. Aber es hat sich für alle, vor allem für die kleine Aruza, gelohnt hart zu kämpfen. Nicht immer geht es so gut aus. Manche Neugeborenen verlassen die Kräfte, manche erliegen den schwierigen Startbedingungen. Aber die kleine Aruza hat gezeigt, dass sich all die Mühe lohnt: Das Krankenhaus und die Neonatologie zu betreiben, Mitarbeiter:innen zu schulen und immer das Beste aus dem zu machen, was man hat. 

Jetzt unsere Teams unterstützen

Neuen Kommentar schreiben