Tschad: Rund 900 Verletzte in den vergangenen Tagen in Adré angekommen

20.06.2023
Ärzte ohne Grenzen liegen Berichte über Menschen vor, die während der gefährlichen Flucht aus der sudanesischen Stadt El Geneina beschossen und getötet wurden. Die Organisation fordert sämtliche bewaffnete Gruppen auf, den Schutz der Zivilbevölkerung zu gewährleisten.

In den vergangenen vier Tagen haben fast 900 Verwundete und 15.000 sudanesische Geflüchtete aus El Geneina und Umgebung die tschadische Stadt Adré erreicht. Ärzte ohne Grenzen liegen Berichte über Menschen vor, die während der gefährlichen Flucht aus der Stadt beschossen und getötet wurden. Die Organisation fordert sämtliche bewaffnete Gruppen in und um El Geneina auf, den Schutz der Zivilbevölkerung zu gewährleisten und sichere Fluchtwege aus der Stadt zu ermöglichen.

Seit fast zwei Monaten ist El Geneina blockiert, es herrscht massive Gewalt. Die Stadt liegt etwa 35 km von der tschadischen Grenze entfernt, und Tausende Menschen versuchen, der Belagerung und den Angriffen zu entkommen.

„Am Mittwochabend, den 14. Juni 2023, wurde der Gouverneur von West-Darfur getötet. In diesem Moment wussten wir, dass sich die Situation weiter verschärfen würde. El Geneina zu verlassen, war eine kollektive Entscheidung der Bewohner:innen von El Geneina“, beschreibt die 25-jährige Nour die Lage. Sie erreichte das Spital in Adré am Donnerstag, den 15. Juni. „Die meisten von uns flohen zu Fuß in den Nordosten von El Geneina, aber viele wurden unterwegs erschossen. Ich sah Tote und Verwundete auf dem Boden liegen. Wie viele es genau waren, weiß ich nicht. Der einzige Ausweg führte Richtung Westen. Deshalb machten sich die Menschen auf nach Adré im Tschad. Die Reise barg jedoch viele Gefahren, wir waren völlig ungeschützt und wurden angegriffen. Am Donnerstag um 11 Uhr schoss mir ein bewaffneter Mann in der Nähe der Stadt Shukri ins Gesicht. Gott sei Dank habe ich überlebt. Zurzeit werde ich im Spital von Adré behandelt.“

Schießereien und Vergewaltigungen von Geflüchteten

Schießereien sind nur eine von vielen Gefahren, denen Flüchtende aus El Geneina ausgesetzt sind. Die 18-jährige Salma* floh am Donnerstagmittag, 15. Juni, mit ihren zwei Schwestern vor der Gewalt in ihrer Stadt. Unterwegs wurden sie von einem Kleinbus angehalten, sechs Männer stiegen aus, alle bewaffnet. Sie zerrten Soadd* von ihren verängstigten Schwestern weg und vergewaltigten sie. „Sie hielten sie einige Zeit im Bus fest. Als sie fertig waren, warfen sie sie aus dem Bus und fuhren weg. Meine Schwester ist erst 15 Jahre alt“, sagt Salma.

Soadds Gesundheitszustand ist kritisch. Sie wird derzeit im Spital von Adré medizinisch versorgt und kämpft um ihr Leben. Alle drei Schwestern sind traumatisiert. Nicht nur aufgrund der Gewalt, die ihnen angetan wurde, auch die Tatsache, dass sie während dieser Krisenzeit von ihren Eltern getrennt sind, lastet schwer auf ihnen.  Sie haben keinen Kontakt zu ihren Eltern. Ihre Mutter befindet sich derzeit in Nyala.

Seit fast zwei Monaten ist El Geneina, die Hauptstadt des Bundesstaates West-Darfur, Schauplatz von Kampfhandlungen. Auslöser waren Zusammenstöße zwischen den sudanesischen Streitkräften (SAF) und den Rapid Support Forces (RSF), die am 15. April in Khartum ausbrachen und sich auf andere Bundesstaaten ausweiteten. Die Unruhen sind zu einem unkontrollierbaren Chaos in El Geneina geworden.

„Die Gewalt eskaliert, und die Menschen leben in ständiger Angst, Zielscheibe davon zu werden“, so Konstantinos Psykakos, der scheidende Projektkoordinator von Ärzte ohne Grenzen. In den letzten zwei Monaten war er in Adré nahe der Grenze zur Stadt El Geneina im Einsatz und wartete vergebens darauf, dass sein Team Zugang zur Stadt bekommen würde.

Patient:innen, die im Spital von Adré behandelt werden, berichteten den Teams von Ärzte ohne Grenzen von Massentötungen, Vertreibungen und Plünderungen. Unter ihnen sind Frauen, die allein mit ihren Kindern die Flucht ergriffen, und Menschen, die Leichen auf den Strassen liegen sahen.

Nour erinnert sich an die vergangenen Wochen in El Geneina. Es war ein Kampf ums Überleben: „Niemand durfte in die Stadt hinein oder hinaus. Trinkwasser hatten wir keines, bewaffnete Gruppen hatten den Zugang unterbrochen. Die Menschen versuchten, sauberes Wasser aus fließenden Gewässern zu holen, aber überall lauerten Scharfschützen. Sie kamen mit Pickups und Motorrädern in die Viertel, voll bewaffnet mit Maschinengewehren auf ihren Pickups. Sie töteten jeden, der ihnen über den Weg lief, plünderten Häuser und brannten ganze Stadtviertel nieder. “

Ärzte ohne Grenzen appelliert an alle Konfliktparteien in und um El Geneina, die Zivilbevölkerung und Infrastruktur zu verschonen. Menschen, die die Stadt verlassen wollen, dürfen nicht an der Flucht gehindert werden. Die Organisation ruft zudem dringend dazu auf, humanitären Teams den Zugang zur Stadt zu ermöglichen und bei der Versorgung verwundeter und kranker Menschen Unterstützung zu leisten.

Eva Hosp, Media und Events

Eva Hosp

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