Mittelmeer: Beschwerde über Gesetz zur Einschränkung von Such- und Rettungsmaßnahmen auf See bei EU-Kommission

13.07.2023
"Jeder Tag, den wir nicht in der Such- und Rettungszone verbringen gefährdet Menschenleben."

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Fünf führende Nichtregierungsorganisationen fordern die Europäische Kommission auf, das italienische Gesetz 15/2023 und die Praxis der italienischen Behörden, weit entfernte Häfen für die Ausschiffung von durch humanitäre Such- und Rettungsschiffe gerettete Menschen zuzuweisen, zu überprüfen. Es führt zu einer Einschränkung von Such- und Rettungsmaßnahmen.

Die Organisationen, die die Beschwerde eingereicht haben, sind Ärzte ohne Grenzen (MSF), SOS Humanity, Oxfam Italia, Association for Juridical Studies on Immigration (ASGI) und EMERGENCY. Sie argumentieren, dass das Gesetz ernsthafte Bedenken hinsichtlich seiner Vereinbarkeit mit einschlägigem EU-Recht und den völkerrechtlichen Verpflichtungen der EU-Mitgliedstaaten in Bezug auf Such- und Rettungsmaßnahmen auf See aufwirft.

„Die Europäische Kommission ist die Hüterin der EU-Verträge und muss sicherstellen, dass die EU-Mitgliedstaaten internationales und EU-Recht einhalten“, sagt Giulia Capitani, migrationspolitische Beraterin bei Oxfam Italia. „Sie sollte die Grundrechte aller Menschen in Europa wahren und schützen. Doch stattdessen sind es die zivilen Such- und Rettungs-Organisationen, die die beschämende Leere auf See füllen, die die EU-Mitgliedstaaten hinterlassen. Anstatt ihre Arbeit zu behindern, sollten die EU-Mitgliedsstaaten sie in die Einrichtung eines angemessenen Systems für Such- und Rettungsaktivitäten einbeziehen.“

Im Jänner 2023 verabschiedete Italien ein neues Dekret, das im März zum Gesetz wurde. Das Gesetz 15/2023 verbietet es Such- und Rettungsschiffen, mehr als eine Rettung durchzuführen. Die Gesetzgebung besagt, dass Such- und Rettungsschiffe nach einer Rettungsaktion unverzüglich den zugewiesenen sicheren Ort ansteuern sollen. Dies bedeutet, dass die Schiffe dann keine Hilfe mehr für andere Boote in Not leisten sollten. Weiterhin verpflichtet das Gesetz die Kapitäne von Schiffen, die eine Rettung durchgeführt haben, den italienischen Behörden nicht näher spezifizierte Informationen über die durchgeführte Rettungsaktion zu übermitteln. In der Praxis führte dies dazu, dass Informationen in immensem und beispiellosem Umfang angefordert wurden.

Das neue Gesetz wird durch die jüngste Praxis der italienischen Behörden verschärft, Rettungsschiffen entfernte Häfen zur Ausschiffung von Überlebenden zuzuweisen. Diese Politik ist in keiner Rechtsvorschrift vorgesehen, seit Dezember 2022 jedoch gängige Praxis. Dabei werden Such- und Rettungsschiffen häufig Häfen in Nord- statt in Süditalien zugewiesen werden, was ihre Fahrzeit erheblich verlängert und ihre Präsenz in der Such- und Rettungszone massiv einschränkt.

Die fünf Organisationen, die die Beschwerde eingereicht haben, sind der Ansicht, dass die Kombination dieser Maßnahmen die Such- und Rettungseinsätze in ungerechtfertigter Weise behindert und ihre Fähigkeit, Leben auf See zu retten, drastisch einschränkt.

„Jeder Tag, den wir nicht in der Such- und Rettungszone verbringen, sei es wegen Festsetzungsorder auf dem Weg zu einem entfernten Hafen, gefährdet Menschenleben“, sagt Djoen Besselink, Einsatzleiter von Ärzte ohne Grenzen. „Das Gesetz zielt auf Nichtregierungsorganisationen ab, aber den wahren Preis werden die Menschen zahlen, die über das Mittelmeer fliehen und sich in einem Boot in Seenot befinden.“ Die verlängerte Fahrtzeit zu Häfen in Norditalien birgt auch physische und psychische Gesundheitsrisiken für die geretteten Menschen an Bord.

„Die Zuweisung von sicheren Häfen, die mehr als 1.000 km von einer Rettung entfernt sind, gefährdet das physische und psychische Wohlbefinden der Überlebenden", sagt Josh[1], Kapitän des SOS Humanity-Rettungsschiffs Humanity 1. „Die 199 Menschen, die wir kürzlich gerettet haben, darunter auch schwangere Frauen und Babys, mussten rund 1.300 km zurücklegen, um in Italien an Land zu gehen, obwohl andere italienische Häfen viel näher lagen.“

„Die geretteten Menschen kommen aus Ländern, die von Kriegen, Klimawandel und Menschenrechtsverletzungen betroffen sind“, sagt Carlo Maisano, Koordinator des Rettungsschiffs Life Support von EMERGENCY. „Sie befinden sich oft in einem äußerst vulnerablen Zustand, der durch die längere Zeit auf See noch verschlimmert wird.“

Die größeren Entfernungen wirken sich auch negativ auf die zivilen Such- und Rettungsorganisationen selbst aus. Die Praxis, weit entfernte Häfen zuzuweisen, erhöht die Treibstoffkosten für die zivilen Such- und Rettungsorganisationen und erschöpft ihre begrenzten Budgets, was sich auf ihre Fähigkeit auswirkt, in Zukunft Leben zu retten.

Am 23. Februar 2023 wurde das Gesetz 15/2023 (damals noch ein Gesetzesdekret) zum ersten Mal angewandt, als die Hafenbehörde von Ancona Ärzte ohne Grenzen über eine 20-tägige Festsetzung ihres Schiffs und eine Geldstrafe in Höhe von 5.000 Euro informierte. Die Strafen wurden verhängt, weil Ärzte ohne Grenzen spezifische Informationen, um die man die Organisation nie zuvor gebeten hatte, nicht zur Verfügung gestellt hatte.

Seitdem haben die italienischen Behörden vier weitere humanitäre Such- und Rettungsschiffe - Aurora[2], Louise Michel, Sea-Eye 4[3] and Mare*Go[4] - wegen Verstoßes gegen das Gesetz 15/2023 für jeweils 20 Tage festgesetzt. Damit haben die humanitären Such- und Rettungsschiffe insgesamt 100 Tage auf See verloren, während sich weiter gefährliche Überfahrten und Schiffbrüche im zentralen Mittelmeer ereigneten.

Ärzte ohne Grenzen, SOS Humanity, Oxfam Italia, ASGI und EMERGENCY fordern die Europäische Kommission auf, das italienische Gesetz 15/2023 und die Praxis der Zuweisung entfernter Häfen unverzüglich zu überprüfen. Als Hüterin der EU-Verträge ist es die Aufgabe der EU-Kommission sicherzustellen, dass die EU-Mitgliedsstaaten das einschlägige Recht einhalten und die lebensrettende Arbeit von Such- und Rettungs-Organisationen nicht länger behindern. Stattdessen sollten sie in die staatlich geführten und proaktiven Such- und Rettungskapazitäten im zentralen Mittelmeer einbezogen werden.
 

Ärzte ohne Grenzen ist seit 2015 im zentralen Mittelmeer mit Such- und Rettungsaktionen im Einsatz. Seitdem haben die Teams von Ärzte ohne Grenzen rund 90.000 Menschen aus Booten in Seenot gerettet. Im Mai 2021 hat Ärzte ohne Grenzen sein Such- und Rettungsschiff Geo Barents in Betrieb genommen und seitdem mehr als 8.114 Menschen gerettet.

[1] Der nicht mit Nachnamen genannt werden möchte.
[2] Sea-Eve e.V.
[3] Sea-Eve e.V.
[4] Sea-Watch e.V.