Erdbeben-Einsatz in Nordwest-Syrien: „Wir sind seit über zehn Jahren vor Ort, auch jetzt“ 

13.02.2023
Rund 450 Mitarbeitende von Ärzte ohne Grenzen haben in den Provinzen Idlib und Aleppo, jenen Gebieten die nicht unter Kontrolle der syrischen Regierung sind, umgehend den Noteinsatz nach dem Erdbeben gestartet.

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Große Teams von Ärzte ohne Grenzen sind seit über zehn Jahren im Nordwesten von Syrien im Einsatz. Rund 450 Mitarbeitende der medizinischen Nothilfeorganisation haben in den Provinzen Idlib und Aleppo, jenen Gebieten die nicht unter Kontrolle der syrischen Regierung sind, daher umgehend den Noteinsatz nach dem Erdbeben gestartet. Sie waren auf alle möglichen Katastrophenszenarien, auch auf das eines „Erdbebens“, vorbereitet und hatten Hilfsgüter zur unmittelbaren Verteilung vorrätig.

Im Nordwesten von Syrien sind Menschen vom Erdbeben betroffen, die auch vor dieser Naturkatastrophe bereits in höchst prekären Verhältnissen gelebt haben, und deren Grundversorgung – auch ihre Gesundheitsversorgung - schon zuvor kaum ausreichend war. Rund 4.5 Millionen Menschen, davon über drei Millionen Binnenvertriebene, leben in den Provinzen Idlib und Aleppo in den Gebieten, die nicht unter Kontrolle der syrischen Regierung sind. Teile der Bevölkerung leben seit über einem Jahrzehnt als Binnenvertriebene.

„Schon unter normalen Umständen wurden die Grundbedürfnisse der Menschen im Nordwesten von Syrien kaum erfüllt. Jetzt sind sie von diesem schweren Erdbeben betroffen und es fehlt an allem“, betont Marcus Bachmann von Ärzte ohne Grenzen Österreich, der mit den Teams der Organisation vor Ort im Kontakt ist. „Wir sind seit über zehn Jahren vor Ort im Einsatz und waren so in der Lage, umgehend mit der Hilfe für die Erdbebenopfer zu beginnen. Größter Respekt unseren syrischen Kolleg:nnen, von denen viele selbst betroffen sind. Zwei meiner Kollegen sind verstorben, andere haben Angehörige verloren oder haben Familienmitglieder, die schwer verletzt sind. Viele haben selbst ihr Obdach und Hab und Gut verloren. Dennoch hat der Großteil von ihnen, rund 450 Kolleg:innen, umgehend die Hilfe gestartet.“

Unmittelbar nach dem Erdbeben hat Ärzte ohne Grenzen 23 Gesundheitseinrichtungen in den Provinzen Idlib und Aleppo mit medizinischen Notfallsets und Personal zur Verstärkung ihrer Teams unterstützt. Bachmann erklärt: „Wie in jedem Einsatzland von Ärzt ohne Grenzen sind die Teams vor Ort auf die größten Katastrophenszenarien vorbereitet. Unsere Teams erstellen Notfallpläne und üben für den Ernstfall. In einem bekannten Erdbebengebiet wie Nordwest-Syrien waren wir auch auf dieses Szenario vorbereitet und hatten daher auch Lager mit medizinischen und logistischen Hilfsgütern in der Region angelegt. Dazu zählten u.a. Narkose-, Trauma- und Wundversorgungs- sowie Amputations-Kits und andere essenzielle Güter. In dem Wissen wie langwierig und schwer Hilfe ins Land zu bekommen ist, war es notwendig, hier langfristig zu planen. So waren wir in der Lage von der Stunde Null weg zu unterstützen und 23 Krankenhäuser zu beliefern, noch bevor die Lage unübersichtlich wurde und Straßen komplett blockiert waren.“

Mittlerweile werden über 30 Spitäler und Hilfseinrichtungen auf diese Weise unterstützt. Die Teams haben auch unmittelbar nach dem Erdbeben mit der Versorgung von Verletzten begonnen. Sie sind rund um die Uhr in 7 Krankenhäusern, 12 Primärversorgungseinrichtungen und 11 mobilen Kliniken im Einsatz. Eine der Gesundheitseinrichtungen, die von Ärzte ohne Grenzen unterstützt werden, war so stark beschädigt, dass sie unbrauchbar war, zwei Entbindungskliniken mussten evakuiert werden. Auch hier kamen die Notfallprotokolle von Ärzte ohne Grenzen zum Einsatz, da die Versorgung der Patient:innen und die Verlegung in noch funktionierende Kliniken umgehend geleistet werden musste, um ihre durchgehende medizinische Versorgung sicherzustellen.

„Unsere große Besorgnis ist die Wasserversorgung und die Hygienesituation der betroffenen Menschen, weil mit der Zerstörung der Infrastruktur auch die Trinkwasseraufbereitungs- und verteilungsanlagen massiv beschädigt wurden“, betont Bachmann. „Unsere Teams waren in den Wochen vor dem Erdbeben mit der Bekämpfung einer massiven Cholera-Epidemie im Nordwesten von Syrien beschäftigt. Es war die schwerste die in der Region je dokumentiert wurde. In über 100 Lagern für Binnenvertriebene betreiben wir seit Beginn des Ausbruchs der Cholera-Epidemie Programme, um den Zugang zu sauberem Wasser und zur Verbesserung der Sanitär und Hygienesituation sicherzustellen.“

Marcus Bachmann von Ärzte ohne Grenzen Österreich: „Auch sieben Tage nach dem Erdbeben lassen sich die Folgen in ihrer ganzen Dimension noch nicht abschätzen - auch unsere Teams können das noch nicht. Aber wir müssen davon ausgehen, dass der Hilfsbedarf im Erdbebengebiet riesig ist. Es fehlt den Menschen an allem – an Lebensmitteln, sauberem Trinkwasser, Unterkünften, Brennmaterial, medizinischer Versorgung, psychologischer Betreuung. Es ist daher wichtig, den humanitären Zugang zu den Betroffenen zu ermöglichen.  Alle sechs Monate bedarf es einer Resolution des UN-Sicherheitsrates, um Bab Al-Hawa offen zu halten. Zuletzt war das am 9. Jänner für sechs Monate der Fall. Er ist die Nabelschnur, um die Menschen im Nordwesten Syriens mit dringend notwendiger humanitärer Hilfe zu versorgen. Ärzte ohne Grenzen unterstützt die Forderung, den Grenzübergang Bab Al-Hawa offenzuhalten. Wir fordern außerdem, weitere Grenzübergänge in den Nordwesten von Syrien zu öffnen.“