Zentralafrikanische Republik: Dramatische Gesundheitssituation

13.12.2011
Interview mit Olivier Aubry, Ärzte ohne Grenzen-Projektverantwortlicher
Zentralafrikanische Republik 2011
Talia Bouchouareb/MSF
Carnot, Zentralafrikanische Republik, 10.10.2011: Straßenszene im Ort Carnot, in dem medizinischer Notstand herrscht.

Seit Juli 2011 haben fast alle bewaffneten Gruppen in der Zentralafrikanischen Republik ein Friedensabkommen unterzeichnet. Gleichwohl sind einige von ihnen weiterhin aktiv. Olivier Aubry, verantwortlich für die Projekte von Ärzte ohne Grenzen im Land, beschreibt, was dies für die medizinische Versorgung bedeutet.

Wie ist die Sicherheitslage zurzeit?

Der Osten der Zentralafrikanischen Republik ist sehr instabil, zwei Gruppierungen kämpfen um die Kontrolle der Diamanten-Regionen. Zu einigen Gebieten haben humanitäre Organisationen überhaupt keinen Zugang. Es ist daher sehr schwierig, Informationen über die Lage der Bevölkerung zu erhalten. 

Im Norden hingegen - und vor allem im Nordwesten in der Region Paoua, wo Ärzte ohne Grenzen seit 2006 arbeitet - werden die bewaffneten Gruppen seit August 2011 entwaffnet, demobilisiert und reintegriert. Es gab hier 2010 keine Kämpfe. Die Stadt Paoua wird von der Regierungsarmee kontrolliert und eine Verwaltung wurde eingesetzt. Dennoch gibt es Anlass zur Sorge, dass sich die Sicherheitslage auch hier wieder verschärft: Das Verschwinden der „Volksarmee für die Wiederherstellung der Republik und der Demokratie“ (APRD) - einer bewaffneten Rebellengruppe, die jedoch eine gewisse Kontrolle in der Region aufrecht erhielt - hat ein Sicherheitsvakuum hinterlassen. Es kommt zu Überfällen auf bestimmten Straßen, und auch ehemalige APRD-Kämpfer treiben ihr Unwesen.

Wie ist die gesundheitliche Situation im Land?

Schon vor dem letzten Staatsstreich im Jahre 2003 war die gesundheitliche Situation in der Zentralafrikanischen Republik sehr ernst, seitdem hat sich die medizinische Versorgung weiter verschlechtert. Das Gesundheitssystem scheint komplett zusammengebrochen zu sein. Das Gesundheitsministerium ist außerhalb der Hauptstadt Bangui praktisch nicht präsent. Es gibt nur wenige Einrichtungen, die geöffnet sind. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung ist daher in einigen Regionen sehr begrenzt, wenn es ihn überhaupt gibt. 

Hinzu kommt: Es gibt keine gesetzlichen Rahmenbedingungen und kaum qualifiziertes medizinisches Personal. Mehr als die Hälfte der Bevölkerung kann nicht lesen und schreiben. Das Land verfügt nur über eine kleine Anzahl an Fachärzten, und die Anzahl der Ärzte im Land wird auf etwa 300 geschätzt – für eine Bevölkerung von rund fünf Millionen Menschen. Die meisten Mediziner arbeiten zudem in der Hauptstadt. Die Folge dieser katastrophalen Gesundheitssituation ist, dass die große Mehrheit der Bevölkerung einen extrem eingeschränkten Zugang zu medizinischer Hilfe hat.

Was zeigen die Sterblichkeitsstudien, die Ärzte ohne Grenzen kürzlich durchgeführt hat?

Die Studie, die das zu Ärzte ohne Grenzen gehörende Forschungsinstitut Epicentre in Carnot, im Südwesten des Landes, durchgeführt hat, offenbart Sterblichkeitsraten, die weit über denen liegen, die eine akute Notsituation kennzeichnen. Die Sterblichkeitsraten in Carnot liegen sowohl für die allgemeine Bevölkerung als auch für Kinder unter fünf Jahren drei- bis viermal höher. Die strukturellen Schwächen des Gesundheitssystems haben dazu geführt, dass wir von einem gesundheitlichen Notstand sprechen können.

Die Epicentre-Studie und die Statistiken aus unseren Gesundheitseinrichtungen legen nahe, dass die Gründe für die sehr hohen Sterblichkeitsraten auf typische Krankheiten, wie Malaria, Atemwegsinfektionen und Durchfallerkrankungen zurückgehen. Allerdings fragen wir uns auch, ob die Notlage nur durch das zerrüttete Gesundheitssystem entstand oder ob es noch andere Gründe dafür gibt, die wir noch nicht erkannt haben. In Carnot ist die Lage sehr ernst. Die Kernfrage ist, ob die Sterblichkeitsrate auch in anderen Landesteilen so hoch ist. 

Was machen andere Hilfsorganisationen im Land?

Das ist eines der größeren Probleme: Die Zentralafrikanische Republik befindet sich zurzeit in der Post-Konflikt-Phase. Der Übergang von der akuten Nothilfe zur Entwicklungshilfe ist oft ein bisschen kompliziert für humanitäre Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen. Leider gibt es in Zentralafrika keine Akteure, die Entwicklungszusammenarbeit betreiben. Uns fehlt dafür aber die Expertise. Wir müssen also allein unter Bedingungen arbeiten, mit denen wir nicht unbedingt gut umgehen können. Außerdem haben wir es nicht geschafft, Akteure der Entwicklungshilfe ins Land zu ziehen, damit sie unsere Arbeit übernehmen. Hinzu kommt, dass die Lage so unbeständig ist, dass es durchaus Bedarf für humanitäre Hilfe gibt. Wir können das Land also auch nicht einfach verlassen.

Wie wichtig ist die medizinische Arbeit von Ärzte ohne Grenzen?

Das Budget aller Projekte von Ärzte ohne Grenzen im Land entspricht etwa dem des Gesundheitsministeriums. Wir sind also ein wichtiger Akteur für die Bevölkerung und das Gesundheitssystem. Wir decken den nördlichen Landesteil mit drei Krankenhäusern ab, die eine Kapazität von etwa 100 Betten haben. Zudem betreuen wir rund 36 Gesundheitszentren landesweit und behandeln HIV- und Tuberkulose-Patienten. Im Jahr 2010 führte Ärzte ohne Grenzen rund 250.000 Sprechstunden durch. Das sind sehr viele Aktivitäten angesichts der Größe des Landes.

Welche besonderen Herausforderungen gibt es bei der HIV-Behandlung?

Die HIV-Situation ist sehr besorgniserregend. Die Verbreitungsrate ist bereits hoch – mit steigender Tendenz. Nirgendwo ist die Situation auch nur annähernd unter Kontrolle. Das nationale Programm kommt nicht voran. Der Globale Fonds, der es unterstützt, hat die Gelder daher Ende letzten Jahres eingefroren, da das nationale Programm nicht richtig funktioniert und die Ressourcen des Globalen Fonds schlecht verwaltet werden. Wir sind sehr besorgt, dass das nationale Programm nicht die Kapazitäten hat, um die verschiedenen Elemente der HIV-Behandlung zu bedienen. Ärzte ohne Grenzen entwickelt daher ein vertikales HIV-Programm in einem Land, in dem das nationale Aidsprogramm nicht funktioniert. Ähnlich verhält es sich für die Behandlung von Tuberkulose (TB) und Malaria. Kürzlich waren Tuberkulose-Medikamente vier Monate lang nicht verfügbar, was zu vielen Problemen in Bezug auf die Medikamentenresistenz führt. In den vergangenen vier Monaten war Ärzte ohne Grenzen die einzige Organisation mit TB-Medikamenten im Land. Und um das Bild abzurunden: Der Globale Fonds finanziert auch Malariaprojekte. Diese Krankheit fordert einen riesigen Tribut.

Doch kurz gesagt: Es gibt nur sehr wenige Akteure, die angesichts der drei Krankheiten HIV, TB und Malaria aktiv sind. Die nationalen Programme funktionieren nicht. Die Regierung steht vor immer größeren Finanzierungsunsicherheiten. Am Ende des Jahres 2011 könnte Ärzte ohne Grenzen die einzige Organisation sein, die HIV- und TB-Medikamente liefert.