“Zehntausende Kinder über Jahre hinweg nicht geimpft.“

16.03.2017
Aufgrund des Krieges in Syrien wurden Impfschutzprogramme lange vernachlässigt. Sara Ferrer ist Krankenpflegerin und erzählt, wie sich dieses Problem jetzt akut auf die betroffenen Kinder auswirkt.
Aufgrund des Krieges in Syrien wurden Impfschutzprogramme lange vernachlässigt. Sara Ferrer ist Krankenpflegerin und erzählt, wie sich dieses Problem jetzt akut auf die betroffenen Kinder auswirkt.
MSF
Viele Kinder in Syrien sind nicht vor vermeidbaren Krankheiten wie Masern, Röteln, Tetanus oder Lungenentzündungen geschützt. Auf dem Foto ist die Impfung eines Kindes im Rahmen eines Immunisierungsprogramms im Al-Salamah-Krankenhaus zu sehen.

Aufgrund des Krieges in Syrien wurden Impfschutzprogramme lange vernachlässigt. Sara Ferrer ist Krankenpflegerin und arbeitet seit fast zehn Jahren für Ärzte ohne Grenzen. Sie koordiniert die medizinischen Projekten, die wir in Teilen des Gouvernements Aleppo in Nordsyrien betreuen. Im Interview erzählt sie uns, warum der fehlende Impfschutz ein großes Problem für syrische Kinder darstellt.

Warum ist es so wichtig, sich auf die Impfung von Kindern in Syrien zu konzentrieren?

Viele schwerwiegende Folgen des schlimmen Syrienkriegs bleiben unbeachtet. Seit der Konflikt 2012 eskalierte, wurde der Großteil der Kinder in vielen Teilen Syriens nicht geimpft. Das ist sehr beunruhigend. Viele Menschen wurden vertrieben, sodass es den Gesundheitsbehörden und den Hilfsorganisationen nicht möglich war, sich um Impfungen zu kümmern. Oft fehlt es auch schlicht an Ressourcen. Manche Kinder haben höchstens ein oder zwei einzelne Dosierungen erhalten. Die Kinder in Syrien sind nicht geschützt vor vielen vermeidbaren Krankheiten wie Masern, Röteln, Tetanus oder Lungenentzündung.

Vor dem Krieg wurden die Kinder in Syrien normal geimpft. Jetzt haben wir es mit einem großflächigen Problem zu tun. Wir haben uns ein Bild des Gesundheitszustandes von vertriebenen Kindern machen können, die aus den Regionen geflohen sind, die vom Islamischen Staat (IS) kontrolliert werden. Sie sind alle nicht geimpft. Aber wir wissen nicht, ob das überall so ist. Zu den Regionen, die von der syrischen Regierung kontrolliert werden, haben wir keinen Zugang. Laut Informationen von Gesundheitsbehörden vor Ort gibt es dort vereinzelt Impfungen.

Gibt es jetzt viele Krankheitsfälle? Wie beunruhigend ist die Lage?

Es gab vereinzelt Krankheitsfälle, die rechtzeitig behandelt werden konnten. Genaue Zahlen haben wir nicht. Das Frühwarnsystem „EWARN“ berichtet über Krankheitsfälle im gesamten Land. Im Moment sind es nur Einzelfälle, aber es gibt sie. Das Risiko ist, dass Faktoren wie das Fehlen von Impfschutz mit der Vertreibung einer großen Zahl an Menschen zusammenkommen. Manche der Krankheiten werden durch die Luft übertragen. Es kann passieren, dass sich solche Krankheiten zu Epidemien entwickeln, die wir nicht mehr kontrollieren können. Im Winter bewegen sich die Menschen wegen der Kälte weniger. Aber bei besserem Wetter erwarten wir, dass die Menschen wieder in ihre Herkunftsorte zurückkehren, wenn dort die Kämpfe aufgehört haben wie in Aleppo Stadt.

Was macht Ärzte ohne Grenzen?

In unserem Al-Salamah-Krankenhaus führen wir seit Jahren einmal die Woche Impfungen durch. Letztes Jahr im Juli haben wir begonnen, Teams in die Vertriebenenlager im Norden zu schicken. So soll das Infektionsrisiko eingedämmt werden. Wir konzentrieren uns auf eine Region mit einer geschätzten Einwohnerzahl von 200.000 Menschen, von denen 17 Prozent unter fünf Jahren alt ist (etwa 34.000). Ein Impfprozess hat drei Runden. Wir arbeiten mit anderen humanitären Helfern zusammen, die für die konkreten Impfungen zuständig sind. Wir liefern die Impfstoffe, kümmern uns darum, dass sie ununterbrochen gekühlt werden und bilden Impf-Teams aus.

Außerdem haben wir letztes Jahr zwei Kampagnen zur Masernimpfung gestartet. Die letzte begann diesen Januar, nachdem im Vertriebenenlager Schamareek sieben Fälle von Masern bestätigt wurden. Unserer Impfkampagne schlossen sich auch die Weltgesundheitsorganisation WHO und andere medizinische Organisationen vor Ort an.  In 12 Tagen konnten so 6.540 Kinder unter 15 Jahren geimpft werden, das waren 93% der Zielpersonen. Im Moment überdenken wir die Möglichkeit, unsere Impfschutz-Aktivitäten auf andere Orte auszuweiten. In drei Bezirken des nördlichen Gouvernements Aleppo, in denen wir schon aktiv sind, gibt es laut Schätzungen etwa 143.000 Kinder unter 5 Jahren.

Welche Probleme treten bei den Impfungen auf?

Manchmal gibt es Widerstand aus der Bevölkerung. Unsere Teams sprechen mit Müttern, um ihnen zu erklären, wie wichtig solche Präventivmaßnahmen für die Kinder sind. Normalerweise wird das Angebot aber angenommen. Immer mehr Familien verstehen die Wichtigkeit und nehmen mit ihren Kindern teil.

Warum gibt es nicht viele Organisationen, die in Syrien Impfungen durchführen?

Solche Impfkampagnen benötigen viele Mitarbeiter und sind sehr teuer. Außerdem ist es nicht einfach, an Impfstoffe zu kommen und sie durchgehend kühl zu lagern, um sie nicht zu ruinieren. Einmal ist uns das in Aleppo passiert. Wegen der Belagerung zwischen Juli und Dezember 2016 konnten wir die Impfstoffe nicht in die Stadt bringen. Niemand konnte uns die Einhaltung der Kühlkette und damit die Qualität der Impfstoffe garantieren.

Was muss getan werden?

Wir glauben, dass sich neben der WHO weitere UN-Organisationen sowie weitere medizinischen Akteure für eine bessere Abdeckungen von Impfungen einsetzen sollten. Kleine Schritte werden schon unternommen, wie das Impfschutzprogramm für Kinder unter einem Jahr in den Gouvernements Hama und Idlib. Aber das reicht nicht. Kinder in Syrien brauchen besseren Schutz.

Zwischen Juli und Februar 2017 hat Ärzte ohne Grenzen insgesamt 35.907 Kinder unter fünf Jahren in vier Bezirken des nördlichen Gouvernement Aleppo im Rahmen eines ausgeweiteten Impfschutzprogrammes geimpft. 5.733 Frauen zwischen 15 und 45 Jahren wurden ebenfalls gegen Tetanus geimpft. Zusätzlich führt Ärzte ohne Grenzen Impf-Initiativen in mehreren weiteren Gouvernements in Syrien durch.