„Wenn nicht ich psychisch kranken Menschen helfe, wer dann?“

17.02.2017
In Simbabwe leben mehr als 14 Millionen Menschen. Doch psychologische Hilfe ist extreme Mangelware: Wir betreiben daher Hilfsprogramme im Land, auch in den Haftanstalten. Gloria Ganyani ist vor Ort und erzählt mehr darüber.
Mental Health hospital
Rachel Corner/De Beeldunie
Linda Buijze, MSF nurse activity manager, a trained psychiatric nurse, checks a patient in the mental health hospital run by MSF. The patient lies on the ground so she can’t fall out of the bed.

In Simbabwe leben mehr als 14 Millionen Menschen. Doch psychologische Hilfe ist extreme Mangelware: Im ganzen Land gibt es nur 20 registrierte klinische PsychologInnen, und gerade einmal neun öffentliche psychiatrische Einrichtungen. Ärzte ohne Grenzen betreibt daher Programme für psychosoziale Hilfe in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium, inklusive Diagnose, Behandlung und der Bereitstellung von Medikamenten. Ein Arbeitsbereich sind auch die Haft- und Strafvollzugsanstalten – Gloria Ganyani, unsere Kommunikationsverantwortliche vor Ort, erzählt mehr darüber

Eines Tages, als Stephen* (30) zu Hause war, hörte er Stimmen – er dachte, es sei das Militär. Die Stimmen befahlen ihm, er müsse mit seiner Familie das Haus verlassen. Falls er das nicht tue, töte das Militär ihn und seine Familie.

Stephen erzählte seiner Familie davon, doch er wurde ignoriert. Die Stimmen in seinem Kopf wurden hingegen lauter: Sie drohten ihm, wenn er und seine Familie nicht flüchten würden, müsse er seine Frau und Kinder töten, bevor das Militär komme. Seine Familie, verwirrt und verunsichert, weigerte sich weiterhin, ihr Zuhause zu verlassen.

Am nächsten Morgen hatte Stephen seine Frau und drei Kinder ermordet.

Hilfe für die schwersten Fälle

Das nächste, woran Stephen sich erinnert, ist, wie er sich in der psychiatrischen Abteilung des Chikurubi Hochsicherheitsgefängnisses in Harare wiederfindet. Dort betreibt Ärzte ohne Grenzen seit 2012 ein  psychologisches Hilfsprogramm.

Als neuer Häftling in der psychiatrischen Abteilung wurde Stephen einem klinischen Psychologen zugewiesen: Emmerson Gono von Ärzte ohne Grenzen.

Ärzte ohne Grenzen Hilfe in Simbabwe
Gloria Ganyani/MSF
Harare, Simbabwe, 10.02.2017: Emmerson Gono, klinischer Psychologe für Ärzte ohne Grenzen, arbeitete in der psychiatrischen Einheit des Chikurubi Hochsicherheitsgefängnisses.

Emmerson arbeitet seit viereinhalb Jahren im Gefängnis. Als Stephen in die Haftanstalt eingewiesen wurde, fragte Emmerson ihn, ob er wisse, warum er inhaftiert sei. Stephans Psychose hatte zwar  abgenommen, aber er konnte sich an nichts in den vergangenen drei Wochen erinnern. Nach Emmersons sorgfältiger Erklärung und als Stephen realisierte, was vorgefallen war, war er todunglücklich.

Laut dem Ministerium für Gesundheit und Kinderfürsorge von Simbabwe leben im Land 1,3 Millionen Menschen mit psychischen Erkrankungen. Trotz der wachsenden Zahl an psychisch kranken Menschen gibt es einen massiven Mangel an psychologischer Hilfe. Es fehlt an personellen Ressourcen sowie an den notwendigen Medikamenten. Das bedeutet, dass für viele Betroffene psychologische Hilfe nicht zugänglich ist.

Psychische Erkrankungen werden immer noch missverstanden

Stephen ist einer von 300 Insassen in der psychiatrischen Abteilung des Chikurubi Hochsicherheitsgefängnisses. Seine Geschichte zeigt auf extreme Weise, in welcher Situation sich viele Patienten wieder finden, wenn die Krankheit nicht diagnostiziert und somit unbehandelt bleibt, erklärt Emmerson: „Wenn man professionell arbeitet, realisiert man, dass der Patient ein Verbrechen aufgrund der psychischen Erkrankung verübt hat und Hilfe benötigt. Egal, wie abscheulichen ihre Straftaten sind, sie brauchen Hilfe... sie sind immer noch Menschen.“

Der Mangel an Ressourcen ist nicht die einzige Herausforderung für Patienten: Für viele ist das Stigma zusätzlich zehrend. Emmersons Freunde necken ihn manchmal und sagen: „Wenn mal viel Zeit mit Kindergartenkindern verbringt, benimmt man sich wie sie. Wenn man häufig mit psychisch Erkrankten zusammen ist, ist man am Ende auch wie sie.“ Solche Aussagen zeigen laut Emmerson, wie stark psychische Erkrankungen noch immer missverstanden werden.

Rachel Corner/De Beeldunie
Harare, Simbabwe, 26.10.2016: Am Gedenktag für psychosoziale Gesundheit wird im Gefängnis gemeinsam getanzt, InsassInnen lesen persönliche Texte und Gedichte vor, Theaterstücke werden aufgeführt.

Betreuung nah am Menschen statt stationär

„Man könnte denken, es sei wertlos oder würde nichts bringen, in einem Gefängnis zu arbeiten. Aber dann frage ich mich: Wenn nicht ich ins Gefängnis gehe, um Menschen mit psychischen Erkrankungen zu helfen, wer tut es sonst?“, erklärt Emmerson. „Mein Wunsch ist es, eine Verschiebung von institutionalisierten psychiatrischen Diensten zu gemeindenahen Gesundheitseinrichtungen für psychisch kranke Menschen zu bewirken. Ich möchte, dass Patienten psychologische Hilfe nahe am Wohnort erhalten und dass diese weniger institutionalisiert ist. Die beste Form der Behandlung bekommen Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht von den  Experten in einem Gefängnis oder in einem Krankenhaus, sondern zu Hause und mit der Unterstützung ihrer Familie. "

Ärzte ohne Grenzen unterstützt seit Mai 2012 die Gefängnis- und Strafvollzugsanstalten von Simbabwe (Zimbabwe Prisons and Correctional Services, kurz ZPCS) bei der Diagnose, Behandlung und Betreuung der Insassen mit psychiatrischen Störungen. Auch Betroffene mit HIV/AIDS und Tuberkulose werden sowohl im Männer- als auch Frauen-Trakt des Hochsicherheitsgefängnisses Chikurubi versorgt. Die Organisation unterstützt auch acht weitere ausgewählte Haftanstalten in der Region Mashonaland mit Fortbildungsmaßnahmen im Bereich psychosozialer Betreuung.

Im Oktober 2015 eröffnete Ärzte ohne Grenzen ein Programm für psychologische Hilfe in der psychiatrischen Abteilung des Zentralkrankenhauses in Harare. Die Organisation errichtete eine Ambulanz und renovierte die Frauen- und Männer-Station für akute und chronische Fälle mit 100 Betten. Ärzte ohne Grenzen bietet auch nach der Entlassung aus der stationären Betreuung eine gemeindenahe psychiatrische Versorgung an, indem ein Team die PatientInnen begleitet und sie in einer nahegelegenen Einrichtung in Harare versorgt.

* Name geändert