Ukraine: Tausende Menschen eingeschlossen

03.02.2015
Ärzte ohne Grenzen fordert Schutz medizinischer Einrichtungen und der Zivilbevölkerung.
Am 30. Januar konnte ein Team von Ärzte ohne Grenzen in das Krankenhaus von Marinka zurückkehren, 35 Kilometer westlich von Donezk.
Hugues Robert/MSF
Donezk, Ukraine, 30.01.2015: Am 30. Januar konnte ein Team von Ärzte ohne Grenzen in das Krankenhaus von Marinka zurückkehren, 35 Kilometer westlich von Donezk. Es war fünf Tage zuvor mit Material beliefert worden. Einen Tag nach der Lieferung, am 26. Januar, wurde die Einrichtung beschossen und das gesamte Personal wurde evakuiert.

Donezk/Wien, am 3. Februar 2015 – Ärzte ohne Grenzen/Médecins Sans Frontières (MSF) appelliert dringend an alle Konfliktparteien im Osten der Ukraine, den Beschuss von Spitälern einzustellen und sicherzustellen, dass Zivilisten sich in Sicherheit bringen können. Angesichts der Zunahme der Gewalt in den vergangenen zwei Wochen hat die Hilfsorganisation ihre Unterstützung für Gesundheitseinrichtungen auf beiden Seiten der Front ausgebaut. Medizinisches Personal bemüht sich nach Kräften, mit der steigenden Zahl Verletzter fertigzuwerden. Unterdessen sind Zivilisten in Städten nahe der Front infolge der heftigen Kämpfe eingeschlossen.

Weiterhin werden auch Gesundheitseinrichtungen beschossen – Personal muss flüchten, tausende Menschen sind ohne medizinische Versorgung. Allein in den vergangenen zwei Wochen wurden fünf von  Ärzte ohne Grenzen  unterstützte medizinische Einrichtungen durch Raketenbeschuss beschädigt oder sogar zerstört.

„Auf beiden Seiten sind Zivilisten und medizinisches Personal die größten Leidtragenden dieses Konflikts“, betont Stéphane Prevost, der Einsatzleiter von  Ärzte ohne Grenzen  in der Ukraine. „Gleichzeitig bedeutet die zusehends schlechtere Sicherheitslage, dass es für Hilfsorganisationen immer schwieriger wird, Menschen, die dringend Hilfe benötigen, zu erreichen.“

Tausende Menschen eingeschlossen

Am 29. Januar konnte ein Team von  Ärzte ohne Grenzen  Horliwka erreichen, eine der am stärksten betroffenen Städte an der Front. Tausende Zivilisten, die nicht fliehen konnten, stecken nun in der Stadt fest. Nur eine einzige, äußerst gefährliche Straße führt derzeit noch in die Stadt hinein und hinaus. Das Team von Ärzte ohne Grenzen besuchte das Krankenhaus Nr. 2, das  Ärzte ohne Grenzen  seit Juni 2014 mit medizinischem Material unterstützt. Während des Besuchs befanden sich mehr als 100 Verletzte in der Chirurgie; laut Angaben des stellvertretenden Spitaldirektors müssen täglich 30 bis 100 Notfallpatienten behandelt werden ein.

„Zahlreiche Ärzte sind aus dem Spital geflohen“, berichtet Hugues Robert, Leiter der Notfall-Programmabteilung in der Genfer Einsatzzentrale von  Ärzte ohne Grenzen . „Diejenigen, die noch dort sind, arbeiten rund um die Uhr und versuchen, sich neben den regulären Patienten auch um alle Verwundeten zu kümmern. Wir bauen unsere Unterstützung für diese Einrichtung diese Woche weiter aus, um das Personal zu entlasten und sicherzustellen, dass ausreichend Medikamente und medizinisches Bedarfsmaterial zur Verfügung steht.“

Spitäler unter Beschuss, Personal auf der Flucht

Vierzig Kilometer östlich von Horliwka haben heftige Gefechte sämtliche Zugangsstraßen in die Stadt Debalzewe unterbrochen. Tausende Menschen sind eingeschlossen. Der leitende Arzt des größten Spitals der Stadt hat gegenüber  Ärzte ohne Grenzen  angegeben, dass die Mehrheit des Personals aus Todesangst geflohen ist, nachdem das Spital seit dem 23. Januar mehrmals unter Beschuss kam und beschädigt wurde. Als einziger verbleibender Arzt muss er sich darauf beschränken, erste Hilfe zu leisten.

Seit September 2014 unterstützt  Ärzte ohne Grenzen  das Krankenhaus mit Lieferungen und am 31. Januar gelang es einem Team, weitere Medikamente und Bedarfsmaterial wie chirurgisches Naht- und Verbandsmaterial hinzuschicken. Auch das in der Nähe gelegene Spital in Svitlodarsk, das ebenfalls von  Ärzte ohne Grenzen  unterstützt wird, wurde am 26. Januar beschossen, worauf das gesamte Personal die Flucht ergriff.

„Wir tun, was wir können, um das verbleibende Spitalpersonal in Debalzewe zu unterstützen, doch heftige Kämpfe hindern unsere Mitarbeiter daran, in die Stadt zu gelangen“, sagt Prevost.

Da die Krankenhäuser in Debalzewe und Svitlodarsk nicht mehr in Betrieb sind, strömen die Verletzten in das rund 40 Kilometer entfernte Spital von Artemiwsk. Dieses ist nun die einzige funktionierende Einrichtung in der Umgebung und nimmt Verletzte von der gesamten Frontlinie sowie andere Patienten auf, die zuvor aus Svitlodarsk evakuiert wurden. In den vergangenen zwei Wochen stellte  Ärzte ohne Grenzen  medizinisches Material zur Verfügung, um 400 Verletzte zu versorgen, sowie Medikamente zur Behandlung chronischer Krankheiten und für die primäre Gesundheitsversorgung.

Am 30. Januar konnte ein Team von Ärzte ohne Grenzen in das Krankenhaus von Marinka zurückkehren, 35 Kilometer westlich von Donezk. Es war fünf Tage zuvor mit Material beliefert worden. Einen Tag nach der Lieferung, am 26. Januar, wurde die Einrichtung beschossen und das gesamte Personal wurde evakuiert.  Ärzte ohne Grenzen  hat das Spital im nahegelegenen Kurakhovo unterstützt und wird in und um Marinka Verteilungen von Hilfsgütern organisieren.

Psychologische Hilfe

Wegen der Zunahme der Kämpfe in den vergangenen zwei Wochen konzentriert sich Ärzte ohne Grenzen darauf, das medizinische Personal in den am stärksten betroffenen Gebieten zu unterstützen. Zusätzlich zur Hilfe in Horliwka, Debalzewe und Artemiwsk belieferten sie medizinische Einrichtungen in Donezk, Konstantinovka, Kurakhavo, Luhansk, Mariupol, Popasnaya und Yenakijeve. Da die Region bereits seit über sechs Monaten unter Medikamentenengpässen leidet, unterstützt  Ärzte ohne Grenzen  auch die Behandlung von chronischen Krankheiten wie Diabetes, Herzerkrankungen, Asthma und Bluthochdruck und spendet Medikamente an Spitäler, Gesundheitszentren sowie Alten- und Pflegeheime. Auch Entbindungsstationen werden unterstützt. Doch der Konflikt, der nun bereits seit zehn Monaten andauert, hat zunehmend auch psychologische Auswirkungen. Derzeit sind 14 Psychologen von  Ärzte ohne Grenzen  im Einsatz, die betroffenen Menschen Einzel- und Gruppenberatungen anbieten. Unter den Patienten befinden sich Vertriebene, Verletzte, Gesundheitspersonal, Lehrer, Sozialarbeiter, Kinder sowie ältere Menschen.

Seit Mai 2014 hat Ärzte ohne Grenzen rund 100 medizinische Einrichtungen auf beiden Seiten des Konflikts in den Gebieten um Donezk, Luhansk und Dnepropetrovsk mit Materiallieferungen unterstützt. Damit konnten 15.000 Verletzte, 1.600 schwangere Frauen und 4.000 Patienten mit chronischen Krankheiten versorgt werden. Psychologen unterstützen Betroffenen in Einzel- und Gruppenberatungen und organisieren Schulungen für lokale Psychologen, Sozialarbeiter sowie medizinisches Personal. In einem Gefängnis in Donezk betreibt Ärzte ohne Grenzen seit 2011 ein Programm zur Behandlung von medikamentenresistenter Tuberkulose.