Awras Majeed ist Ärztin aus dem neuseeländischen Wellington und das erste Mal auf Einsatz mit Ärzte ohne Grenzen. Seit sieben Monaten arbeitet sie in der Region Zinder in Niger, wo sie in einem therapeutischen Ernährungszentrum akut mangelernährte Kinder behandelt. Mit diesem Bericht gibt sie uns einen Einblick in ihre Arbeit in Niger während der „Hungerzeit“.
Ich arbeite für Ärzte ohne Grenzen in einem therapeutischen Ernährungszentrum in Zinder, im südlichen Niger. Wir pflegen hier jeweils bis zu 400 akut mangelernährte Kinder, die medizinische Behandlung benötigen. Angekommen bin ich im Juli 2010, kurz vor dem Höhepunkt der jährlich wiederkehrenden Ernährungskrise. Obwohl wir diese „Hungerzeit“ erwartet und uns darauf vorbereitet hatten, hat sie uns in ihrem Ausmaß dennoch überrumpelt: im Vormonat waren in Niger fast 17 Prozent der Kinder unter fünf Jahren akut mangelernährt. In der am meisten gefährdeten Altersgruppe – Kinder zwischen sechs Monaten und zwei Jahren – litt sogar jedes vierte Kind unter akuter Mangelernährung.
Mein Tag beginnt jeweils mit einem halbstündigen Spaziergang zum Ernährungszentrum. Ich freue mich sehr über diese Momente, in denen ich mich unter die Menschen mischen kann. Dadurch lerne ich eine andere Seite des Lebens hier kennen. Das Ernährungszentrum selber besteht aus einer Anzahl dauerhaft errichteter Zelte aus Plastikplanen, die für die unterschiedlichen Phasen der Ernährungsbehandlung in verschiedene Abteilungen aufgeteilt sind. Im Hochsommer klettern die Temperaturen in den Zelten durch die pralle Sonne und die Plastikplanen schnell auf über 40 Grad Celsius. Das ist nicht einfach.
Ich bin hauptsächlich für die Intensivstation zuständig. Dort werden diejenigen Kinder eingeliefert, die in sehr schlechtem gesundheitlichen Zustand sind und durchgehender und intensiver Betreuung bedürfen. Meine Arbeit hat zwar traurige Seiten, aber ich verspüre auch eine tiefe Befriedigung, ein Gefühl dessen ich niemals überdrüssig werde.
Bedrückendes Ausmaß der Erkrankungen
Während der regulären Visiten werde ich oft in die Notaufnahme gerufen, um Kinder, denen es besonders schlecht geht, zu untersuchen und gegebenenfalls in die Intensivabteilung zu überweisen. Ich habe oft das Gefühl, in Stücke gerissen zu werden, wenn ich viele Kinder gleichzeitig untersuchen und behandeln muss. Nicht nur der Grad der Erkrankungen ist erdrückend, sondern auch deren Ausmaß: In der Hungerzeit haben die Kinder bereits mit der Mangelernährung zu kämpfen, aber da der Höhepunkt der Hungerzeit auf die Regenzeit fällt und während der Regenzeit die Malaria erbarmungslos wütet, wird es dann noch viel schlimmer. Die mangelernährten Kinder, die wir behandeln, leiden fast alle an Malaria. Außerdem können Atemwegsinfektionen, Hautinfektionen und Magen-Darm-Erkrankungen auftreten, die für mangelernährte Kinder lebensbedrohlich sein können. Wenn ich die Patienten hier mit denen zu Hause vergleiche, ist der alarmierendste Unterschied eindeutig der Schweregrad der Erkrankungen: Eine Magen-Darm-Entzündung bei uns zu Hause ist zwar unangenehm, aber so gut wie nie lebensbedrohlich. Hier hingegen kann ein Kind an Durchfall sterben, wenn es nicht früh genug und behandelt wird.
Ich frage die Mütter oft nach ihrer Geschichte, um besser zu verstehen, wieso die Kinder hier nicht dieselben Überlebenschancen haben wie die Kinder zu Hause. Es ist jedoch nur schwer zu verstehen und ich suche noch immer nach einer Antwort. Es zerreißt mir das Herz wenn ich Mütter im unserer Klinik sehe deren Kinder sterben: nach außen zeigen sie nicht viele Emotionen, beinahe so, als wäre der Verlust normal. Nicht selten nehmen wir Kinder auf, die das letzte überlebende von ehemals sieben oder acht Geschwistern sind. Was müssen diese Familien bereits durchgemacht haben, wenn der Tod zur Routine wird?
Fortschritte und Glücksmomente
Wenn sich der Zustand eines Kindes stabilisiert hat, gehen wir zur nächsten Phase der Ernährungsbehandlung über. Dort konzentrieren wir uns auf Kalorienzufuhr und Gewichtszunahme. Da sich die Situation seit Jänner am beruhigen ist, können wir uns nun außerdem darauf zu konzentrieren, Trainingsmaterial für das nigrische Pflegepersonal zu entwickeln, um neu gewonnene Kenntnisse über die hier vorherrschenden Krankheiten zu vermitteln. Ich hoffe, dass ich dadurch auch nach meiner Abreise noch von Nutzen sein werde.
Ich freue mich immer, wenn ich die Abteilung der letzten Phase vor der Entlassung besuche und ich die Fortschritte der Kinder mit eigenen Augen sehen kann, insbesondere wenn der Weg dahin sehr schwierig war. Da stark unterernährte Kinder durch die schwachen Backenmuskeln und die hervorstechenden Wangenknochen ihre unschuldigen Gesichtszüge verlieren, habe ich oft das Gefühl, wir nehmen alte Menschen auf und entlassen sie als junge Kinder wieder. Manchmal erkenne ich die Kinder kaum wieder, nur durch ihre Mütter weiß ich dann, wer sie sind. Das sind wahre Glücksmomente, diese Erfolgsgeschichten sind etwas ganz Besonderes.
Jedes Kind hat das Recht darauf, genügend Nahrung zu erhalten um bis zu seinem fünften Lebensjahr überleben zu können – mit ausreichend Energie versorgt zu sein, damit sich das Gehirn, der Körper und das Immunsystem richtig entwickeln können, und genügend Nahrung zu haben, um spielen zu können und ganz einfach nur Kind zu sein.