Syrien: Schwierige Bedingungen

22.11.2012
Ein Chirurg erzählt vom Einsatz im Krisengebiet
Afghanistan 2010
Ton Koene
Lashkargah, 16.05.2010: Archivbild: Dr. Martial Ledecq bei einem chirurgischen Einsatz in Afghanistan.

Der belgische Chirurg Dr. Martial Ledecq ist von einem Einsatz zurückgekehrt, bei dem er einen Monat in einer der vier medizinischen Einrichtungen verbrachte, die von Ärzte ohne Grenzen im Norden Syriens behelfsmäßig errichtet wurden. Seit Ende Juni 2012 haben unsere Teams über 2.500 Patient:innen versorgt und an die 550 chirurgische Operationen durchgeführt.

 

Wie hat Dein Einsatz in Syrien ausgesehen?

 

Ich habe einen Monat lang als Chirurg in einem behelfsmäßigen Spital gearbeitet, das von Ärzte ohne Grenzen im Norden Syriens errichtet wurde. Unsere Einrichtung bestand aus einem Operationstrakt mit zehn Spitalbetten für chirurgische Notfälle. Zudem boten wir der Lokalbevölkerung medizinische Sprechstunden an. Wir nahmen in einem Monat etwa 70 Eingriffe im Operationstrakt vor, also etwas mehr als zwei pro Tag. Bis auf einige zivile chirurgische Notfälle fanden diese Eingriffe alle bei Patient:innen statt, die an gewaltverursachten Verletzungen litten: Schuss- oder Splitterverletzungen, offene Brüche, Verletzungen durch Explosionen… Unter diesen Patient:innen hatte es neben Frauen und Kindern auch Soldaten aus verschiedenen Oppositionsgruppen sowie aus Regierungstruppen gegeben.

 

Die Arbeit wird vermutlich von zahlreichen Faktoren erschwert?

 

Wir mussten unter sehr schwierigen Bedingungen arbeiten. Bei meinem Arbeitsort handelte sich um eine geräumige Höhle, die zuvor als Lager für Früchte, Gemüse oder Treibstoff gebraucht wurde. Die Herausforderung war, die nötigen Bedingungen für die Bereitstellung eines medizinischen und chirurgischen Zentrums zu schaffen. Wir mussten Wasser und Strom herbeiführen und optimale sterile Bedingungen herstellen. Außerdem richteten wir ein aufblasbares, hermetisches Zelt für den Operationstrakt ein. Unter Bedingungen, die von vornherein sehr ungünstig waren, gelang es uns, in einer sehr ländlichen Gegend am Fuße eines Hügels eine Pflegeeinrichtung aufzubauen. Damit meisterten wir eine enorme logistische Herausforderung.

 

Eure Ressourcen waren natürlich beschränkt …

 

Die größte Herausforderung war, sich in einer räumlich begrenzten Einrichtung mit nur wenig Personal in einem sehr kurzen Zeitraum um eine große Anzahl Verletzter zu kümmern. Unter diesen Bedingungen ist es schwierig, die Prinzipien eines Katastrophenszenarios anzuwenden, obschon bei Ärzte ohne Grenzen ein solches besteht. Die medizinisch-chirurgische Priorisierung unter den Verwundeten war oft schwierig in einer Einrichtung, die nur einen Operationssaal, einen Anästhesisten und einen Chirurgen hat.

 

Fühltest du dich in Gefahr?

 

Von Zeit zu Zeit ja, wenn ein Helikopter zwanzig Minuten lang über unseren Köpfen kreiste, hatte man Zeit, sich zu fragen, was geschehen wird. Eines Tages schlug eine Bombe 60 Meter neben unserem Feldlazarett ein. Zu diesem Zeitpunkt war ich am Operieren. In diesen Augenblicken ist man sehr konzentriert und ist sich des Ausmaßes der Gefahr bestimmt weniger bewusst.

 

Wie ist das Ausmaß der Gewalt für die Bevölkerung?

 

Ich weiß nicht, ob man bei der Gewalt eine Abstufung machen kann. Wir haben alle Arten von Verletzungen gesehen: Ein Mann kam mit einer Kugel im Kopf, ein anderer mit einer Kugel im Mund. Ein verletzter Gefangener war in einem unglaublichen Zustand und bat uns, als wir ihn auf unserem Operationstisch hatten, sein Leben zu schonen! Der Krieg ist nie schön.

 

Wie kann man in diesem sehr polarisierten Konflikt die Neutralität unserer Einrichtungen erhalten?

 

Gewalt ist ansteckend, aber auch Freundlichkeit, die allen entgegengebracht wird. Ob durch einen formellen Dialog mit dem einen oder anderen Verantwortlichen der bewaffneten Gruppen oder durch die alltägliche Pflege, die mit der gleichen Aufmerksamkeit jedem zuteilwird, ungeachtet seiner politischen oder religiösen Gesinnung: Unsere syrischen Mitarbeiter:innen haben rasch verstanden, dass wir in diesem Konflikt neutral sind. Trotz des stark polarisierten Konflikts war es möglich, aus unserem Pflegeraum eine friedliche Einrichtung zu machen, in der Gesten einfacher Solidarität zum Ausdruck kommen, und es war möglich, den Verletzten ihre Würde wiederzugeben, wo auch immer sie herkamen.