Syrien: „Die Auswirkungen auf das Leben der Menschen“

04.10.2012
OP-Krankenschwester Ruth Priestley aus Syrien
Syrien 2012
Kathrine Holte/MSF
Syrien, 22.07.2012: Seit Juni 2012 leistet Ärzte ohne Grenzen in einem im Norden Syriens gelegenen Spital chirurgische Hilfe.

Ruth Priestley ist ein OP-Krankenschwester aus Australien, die kürzlich neun Wochen mit  Ärzte ohne Grenzen in Syrien war. Im Interview erzählt sie von einigen Patientinnen und Patienten, deren Situation sie sehr bewegt hat und wie sich deren Lage während ihres Einsatzes verändert hat. Die Krankenschwester war in dem seit Mitte Juni von Ärzte ohne Grenzen und der Union syrischer medizinischer Hilfsorganisationen betriebenen Krankenhaus für chirurgische Trauma-Patienten tätig. Bis Ende September wurden dort mehr als 1.100 Patienten behandelt und mehr als 260 chirurgische Eingriffe durchgeführt.

Welche Verletzungen hast du gesehen?

Unsere Patientinnen und Patienten hatten vor allem Schusswunden oder waren durch Bombenexplosionen verletzt worden – sie sind also durch Kriegshandlungen verletzt worden. Wir haben sehr viele orthopädische und Eingriffe im Bauchraum durchgeführt. Patienten hatten verletzte Organe und brauchten große chirurgische Operationen. Manchmal hatten sie 13 oder mehr Löcher im Darm, Blasen-Verletzungen oder ihre Milz war zerrissen worden.

Ein Mann, den wir operiert haben, hatte mindestens 20 Wunden in seinem Körper – hervorgerufen von Bombenexplosionen, Granatsplittern und Schüssen. Sie begannen an seinen Füßen, gingen die Beine entlang bis zum Rumpf und endeten an seinem rechten Nasenloch und seiner linken Stirn. Trotzdem hat er das irgendwie überlebt - er hatte keine größeren inneren Verletzungen. Seine Hände waren stark verletzt, und er war dann überglücklich, dass wir keine Armamputation vornehmen mussten.

Haben andere Patienten dich auch sehr bewegt?

Von den ersten 29 Operationen, die wir gemacht haben, haben wir neun bei einem jungen Mann durchgeführt. Seine Verletzung führte zu einer Amputation des Beines und eines Teils der Hüfte. Er kam regelmäßig zurück für weitere Eingriffe, wir konnten die Wunde schließlich schließen und er wurde entlassen. Danach kam er auf Krücken mit seinem Bruder bei uns vorbei – die beiden hatten ein großes Lächeln im Gesicht, glücklich, uns alle wiederzusehen, die sich um ihn gekümmert hatten. Es war so schön, seine Genesung mitzubekommen und zu sehen, dass es ihm gut ging. Etliche Wochen später erhielten wir die traurige Nachricht, dass dieser junge Mann in einer Bombenexplosion in Aleppo getötet worden war. Das hat uns alle wirklich sehr mitgenommen.

Nach einem Bombenanschlag auf einen Basar in einer nahe gelegenen Stadt wurden etwa sieben Kinder auf einmal eingeliefert. Darunter war ein 9-jähriges Mädchen, das eine offene Bauchwunde und Verletzungen an beiden Beinen hatte. Wir haben die Darmoperation gemacht und mussten ein Bein amputieren. Wir mussten die weiteren Eingriffe im OP wie Verbandwechsel und Wundverschlüsse, danach ausrichten, wie ihr kleiner Körper all die Anästhesien bewältigen konnte. Bei diesem Bombenanschlag sind auch zwei ihrer Geschwister und vier ihrer Cousins getötet worden.

War es schwierig, das emotional zu bewältigen?

Wenn man mit diesen entsetzlichen Verletzungen konfrontiert ist, kann das schwierig werden. Aber als Mediziner macht man einfach in allen Situationen weiter, mit dem Wissen, dass es um die Patienten geht und nicht darum, wie man selbst reagiert. Ich bin mir auch immer darüber im Klaren, dass ich im Unterschied zu ihnen gehen kann.

Aber es macht einen wütend und sehr traurig, die Auswirkungen auf das Leben der Menschen zu sehen. Als der Basar bombardiert wurde, wurden Zivilistinnen und Zivilisten bombardiert … das macht einen wütend. Wir haben Tag für Tag die Lebensrealität in einem Krieg gesehen und die Zerstörung, die daraus resultiert. All diese Menschen wurden verletzt und für ihr Leben verstümmelt.

Wie hat sich die Situation verändert?

Als ich ankam, waren wir sehr beschäftigt. Wir haben Tag und Nacht gearbeitet und wussten kaum, ob es 3 Uhr nachts oder 3 Uhr nachmittags war. Ich musste mir das Datum und die Uhrzeit notieren, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren. Am Ende der ersten dreieinhalb Wochen fühlte es sich an, als wäre ich in der Waschmaschine geschleudert worden, mit wenig Zeit zum Luftholen. Nach den ersten paar Wochen wurde es dann ruhiger.

Eine weitere Veränderung war, dass die Bevölkerung in dem Dorf, in dem wir waren, anwuchs, da die Menschen aus den Konfliktgebieten dorthin kamen. In den meisten oder fast allen Häusern lebten mehrere Familien, und viele Familien kampierten in einer der Schulen. Andere blieben an der Grenze unter den Olivenbäumen und warteten darauf, das Gebiet als Flüchtlinge verlassen zu dürfen. Daher kamen dann Patienten, die eine Basisversorgung brauchten, einschließlich solchen mit chronischen Erkrankungen und Durchfall. Wir haben den Bedarf permanent überwacht und unsere Behandlungen dementsprechend angepasst.

Während meiner Zeit in Syrien haben wir anhaltend Patienten mit schweren Kriegsverletzungen aufgenommen, bei denen lebensrettende Notoperationen erforderlich waren. Nachdem lokale Feldhospitäler eingerichtet wurden, waren einige unserer Patienten bereits gut chirurgisch versorgt worden, so dass wir uns nur noch um die Verbände und die allgemeine Pflege kümmern mussten.

Woher kamen Ihre Patientinnen und Patienten?

Unsere Patienten kamen zum Teil von weit her. Einige kamen aus Aleppo oder anderen Städten, wobei sie etwa fünf Stunden unterwegs waren. Diese Zeitspanne zwischen Verletzung und Behandlung hat sehr negative Auswirkungen.+

Gab es Sicherheitsvorfälle?

Es gab Momente, in denen wir auf Abruf waren, um uns und unsere schwerverletzten Patienten zu evakuieren. Der Chirurg musste abwägen, wie schnell wir bestimmte Eingriffe vornehmen konnten, um zu entscheiden, ob wir die Operation beenden konnten, bevor wir hätten evakuieren müssen. Das waren schwierige Entscheidungen.