Flucht nach Europa: Spiel mit Menschenleben

18.06.2018
"Als medizinische Hilfsorganisation, deren oberstes Ziel es ist, Menschenleben zu bewahren, sind wir extrem besorgt darüber, wie schwierig es geworden ist, Menschen aus Seenot zu retten." - Mario Thaler, Geschäftsführer Ärzte ohne Grenzen.
Aquarius Disembarking at Valencia Port Spain
Kenny Karpov/SOS MEDITERRANEE
People disembark search and rescue vessel Aquarius, operated by SOS Méditerranée in partnership with Médecins Sans Frontières/Doctors Without Borders (MSF), in Valencia, Spain. The disembarkation is the end of a terrible ordeal for the men, women and children who spent multiple days at sea.

Fast 800 Menschen sind heuer bereits im Mittelmeer ertrunken. Über diese Toten hört man jedoch nichts, wenn Politiker und Politikerinnen heute über die Mittelmeer-Krise sprechen. Auch nicht über jene knapp 7.000 Menschen, die von der libyschen Küstenwache abgefangen und in das Bürgerkriegsland zurückgebracht wurden. Wenn sie darüber nachdenken würden, müssten sie sich fragen, wie es wäre, wenn elf vollbesetzte Doppeldeckerbusse im Meer versinken. Sie müssten sich auch damit beschäftigen, wie die Zustände in den Lagern in Libyen sind, in die diese Menschen zurückgebracht wurden, müssten sich mit Themen wie Folter, Misshandlung, sexueller Gewalt und Menschenhandel auseinandersetzen. Über 570 der in diese Lager Zurückgeschickten waren übrigens Kinder.

Europa hat im Umgang mit Flüchtenden und Migranten seinen moralischen Kompass verloren

Wie sehr das Schicksal von Schutzsuchenden zum Spielball der europäischen Politik geworden ist, zeigt der aktuelle Vorfall rund um das Such- und Rettungsschiff „Aquarius“, das von uns und SOS Méditerranée betrieben wird. Nachdem der italienische Innenminister die Landeverweigerung ausgesprochen hatte, entbrannten hitzige Diskussionen - die einen wesentlichen Aspekt jedoch schmerzlich vermissen ließen: Um das Wohl der Menschen ging es dabei nicht. Der humanitäre Aspekt wurde zu Gunsten von politischem Hickhack meist gänzlich ignoriert.

Das zeigt sich an der „Lösung“, die für die 629 traumatisierten und erschöpften Überlebenden an Bord der „Aquarius“ gefunden wurde. Sie wurden nicht zur Erstversorgung in den nächsten sicheren Hafen gebracht, wie es das Seerecht vorsieht, sondern mussten bei schlechtem Wetter weitere Tage auf hoher See verbringen, um in das 1.300 Kilometer entfernte Valencia gebracht zu werden. So nobel die Geste Spaniens war, die Menschen aufzunehmen: Der Vorfall hat klar gezeigt, dass Europa im Umgang mit Flüchtenden und Migranten seinen moralischen Kompass verloren hat. Ähnliches sehen wir auch beim EU-Türkei-Deal: Zwei Jahre nach Inkrafttreten des Abkommens herrschen in den überfüllten EU-Hotspots für Asylsuchende auf den griechischen Inseln katastrophale Lebensbedingungen.

Wir sind extrem besorgt darüber, wie schwierig es geworden ist, Menschen aus Seenot zu retten

Die Ereignisse von letzter Woche dürfen nicht zum Präzedenz-Fall werden, denn eines ist klar: Wenn sich die Rettungskapazitäten vor Ort verringern, sterben noch mehr Menschen. Gleichzeitig mit der „Aquarius“ hat übrigens auch ein Schiff der italienischen Marine mehr als 900 Menschen aus Seenot gerettet und an Bord genommen – es durfte im Hafen von Catania einlaufen, was die Diskussionen rund um die „Aquarius“ umso zynischer erscheinen lässt. Vor allem, wenn man weiß, dass zwei Drittel der 629 Menschen ursprünglich von der italienischen Küstenwache und Marine gerettet und anschließend von unserem Schiff übernommen wurden.

Als medizinische Hilfsorganisation, deren oberstes Ziel es ist, Menschenleben zu bewahren, sind wir extrem besorgt darüber, wie schwierig es geworden ist, Menschen aus Seenot zu retten. Wir haben wiederholt betont: Wir sind humanitäre Helfer, wir retten Menschen am Mittelmeer, weil die Verantwortlichen in diesem Punkt versagen. Für langfristige, humane Lösungen ist jedoch die Politik gefragt. Wegsehen, sich in Ignoranz üben und Menschenleben als politischen Spielball zu missbrauchen ist keine.

Mario Thaler, Geschäftsführer Ärzte ohne Grenzen Österreich

Der Text ist als Kommentar am 17. Juni 2018 in der Tiroler Tageszeitung erschienen.

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