In den Geflüchtetenlagern in Kenia und an vielen anderen Orten weltweit sind immer öfter auch psychologische Teams von Ärzte ohne Grenzen ein wichtiger Bestandteil des Hilfseinsatzes. Ein Überblick anlässlich des Welttags der seelischen Gesundheit.
Der heute 25-jährige Siyad Abdi Ar wurde im Alter von 16 Jahren von bewaffneten Männern in Somalia misshandelt. Er hat sich nie davon erholt. Seine Mutter sah sich gezwungen, ihn anzuketten, damit er nicht im Geflüchtetenlager in Dadaab umherirrte, wohin die Familie im Jahr 2010 geflüchtet war.
Fast eine halbe Million Menschen leben in Dadaab dicht zusammengedrängt, nachdem sie vor der Gewalt und der Dürre in Somalia geflohen sind. Die meisten Geflüchteten sind bei ihrer Ankunft traumatisiert. Seit 2009 betreibt Ärzte ohne Grenzen in Dagahaley, einem der Lager von Dadaab, ein Spital und mehrere Gesundheitszentren, wo auch psychologische Betreuung angeboten wird. In Kenia wie auch in anderen Einsatzländern von Ärzte ohne Grenzen sind Psycholog:innen sowie Psychiater:innen mittlerweile zu einem festen Bestandteil der Teams geworden.
Hilfe im Flüchtlingslager Dadaab
„In Dadaab, oder in Afrika im Allgemeinen, drückt sich seelische Not oft anders aus als in den reicheren Ländern. Die Leute beklagen sich über körperliche Schmerzen. Wir versuchen, ihnen während der Sitzungen klarzumachen, dass diese Schmerzen mit ihrem seelischen Zustand zusammenhängen“, erklärt Psychiater Pablo Melgar Gomez, der von 2009 bis 2010 in Dadaab tätig war und heute mit palästinensischen Geflüchteten im Libanon arbeitet.
Häufig reichen einige Sitzungen, um die Traumata zu überwinden. In Dadaab gab es überhaupt keine Möglichkeit, schwere Fälle wie denjenigen von Siyad Abdi Ar zu behandeln. Schizophrene oder bipolare Menschen waren sich selbst überlassen. „Als ich in Dadaab war, war ich mit einem Dutzend Kranker konfrontiert, die von ihren völlig hilflosen Familien angekettet oder eingeschlossen worden waren“, erzählt Pablo Melgar Gomez. „Wegen des Mangels an psychiatrischen Einrichtungen gibt es zwar für diese Menschen nur wenig Aussicht auf vollständige Heilung, aber ohne unser Eingreifen wären sie heute immer noch angekettet.“
Mangel an Behandlungsmöglichkeiten
Gemäß der Weltgesundheitsorganisation (WHO) leiden auf der ganzen Welt 450 Millionen Menschen an mindestens einer seelischen Störung. Davon leben 85 Prozent in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen. Es besteht ein enormer Mangel an Behandlungsmöglichkeiten. Im Fall von Krieg oder Naturkatastrophen kann die Anzahl der Menschen mit verbreiteten seelischen Leiden wie Depressionen oder Angstgefühlen 25 bis 30 Prozent erreichen, was zwei- bis dreimal mehr ist als in normalen Zeiten.
In Extremsituationen leidet jeder Mensch unter starken Angst- oder Trauergefühlen. Das ist eine normale Reaktion auf ein abnormales Ereignis. Der Mehrheit der betroffenen Menschen gelingt es jedoch, sich an die Situation zu gewöhnen, vor allem dank der Hilfe ihres Umfelds. Wenn das nicht der Fall ist, brauchen die Menschen psychologische oder psychiatrische Hilfe.
Kriseneinsätze und Hilfe zur Diagnose
In Krisensituationen kümmern sich psychologische Teams von Ärzte ohne Grenzen um die dringendsten Bedürfnisse. In einem Flüchtlingslager oder nach einem Erdbeben wie jenem im Jänner 2010 auf Haiti zielen die Notkonsultationen darauf ab, den Patient:innen zu helfen, ihre traumatischen Reaktionen zu überwinden, aber auch den Menschen mit schweren psychischen Störungen eine angemessene Behandlung zukommen zu lassen.
Psychische Leiden sind oft schwierig zu erkennen, weil sie sich häufig in physischen Leiden äußern. Zur Arbeit von Ärzte ohne Grenzen gehört es deshalb auch, das Personal darin zu unterstützen und zu schulen, solche Patient:innen zu erkennen. Es handelt sich dabei typischerweise um Menschen, die sich über diffuse Schmerzen beklagen oder mehrere Male aus dem gleichen Grund kommen, ohne dass man eine Diagnose stellen kann. Daher ist es notwendig, die Betreuung der seelischen Gesundheit in die von Ärzte ohne Grenzen geleistete humanitäre Hilfe zu integrieren.
Weitere Einsatzgebiete
Auch Vergewaltigungsopfer in der Demokratischen Republik Kongo oder Gewaltopfer in Guatemala und in Honduras brauchen psychologische Betreuung. Selbst wenn die Präsenz von psychologischen Teams in Not- oder Konfliktsituationen mittlerweile selbstverständlich ist, ist sie in anderen Einsatzgebieten noch lange nicht gesichert. Dabei kann eine psychologische Begleitung auch in anderen Zusammenhängen durchaus sinnvoll sein. „Eine depressive Mutter kann sich nicht richtig um ihr Kind zu kümmern, damit es an Gewicht zulegen kann. Genauso kann psychologische Hilfe auch HIV/Aids- oder Tuberkulosepatient:innen bei der Einhaltung ihrer Therapie unterstützen“, erklärt Pablo Melgar Gomez.
Im Jahr 2011 haben die Teams in den Einsatzländern von Ärzte ohne Grenzen insgesamt fast 170.000 Einzelkonsultationen sowie 19.200 Gruppensitzungen durchgeführt.