Notfallklinik in Motscha: Ein Drittel der Minenopfer sind Kinder

15.01.2019
In unserer Notfallklinik in der Stadt Motscha im Gouvernement Taïz behandeln wir Menschen, die von Minen oder Sprengkörpern verletzt wurden. Die Leidtragenden sind vor allem Kinder, die auf den Feldern spielen.
MSF Mocha surgical hospital
Agnes Varraine-Leca/MSF
Yemen, Mocha, 9 December 2018 – Nasser, 14 and his father Mohammed Abdou, come from Mafraq Al Mocha, one-hour drive from Mocha city. On 7 December, Nasser was tending his sheep with his uncle and his cousin, they were planning to go to the mountains. Nasser walked on a landmine located in a field. He and his uncle were injured by the blast. His uncle got shrapnel in his eyes and was transferred to MSF surgical hospital in Mocha, and then referred to MSF Aden trauma hospital. Nasser had multiple injuries, and he had his right foot amputated right after his arrival at the hospital. “There was no more bone, nothing that we could have saved to avoid the amputation” explains Farouk, physiotherapist. Nasser had a previous amputation of his thumb, because of a gunshot, which makes it difficult for him to work with crutches. Mohammed Abdou, Nasser’s father, explains that fighting has intensified this year. As military troops were withdrawing, they planted plenty of landmines near Mafraq Al Mocha and in the area, along the frontlines. MSF is supporting an advanced medical post with stabilization/OPD kits in Mafraq Al Mocha. The residents of the city know some places where there are landmines and where it’s not safe to go. But there’s not enough signs to indicate the presence of landmines in the area, and not enough demining staff. Mohammed Abdou is now afraid to go in the field around Mafraq. On the picture, Nasser is trying to walk with crutches for the first time, with the help of Farouk, physiotherapist.

Anfang 2018 verstärkten sich die Kämpfe an der Frontlinie zwischen den Städten Taïz und Hodeidah zwischen den Truppen von Ansar Allah und Streitkräften der von Saudi-Arabien und den Emiraten geführten Militärallianz. Um den Vormarsch der Bodentruppen der Militärallianz zu verhindern, wurden Tausende von Minen und Sprengvorrichtungen über die Straßen und Felder der Region verteilt. Die Leidtragenden sind vor allem Zivilist:innen.

Im August 2018 eröffneten wir eine Notfallklinik in der Stadt Motscha im Gouvernement Taïz. Dort behandeln wir Menschen, die von Minen oder Sprengkörpern verletzt wurden. Ein Drittel davon sind Kinder. Wir fordern die lokalen Behörden und spezialisierte Organisationen dazu auf, die Minenräumaktionen zu verstärken.

Im Hof ​​der Klinik in Motscha ertönt eine Glocke, die die Ankunft weiterer Patient:innen signalisiert. Man hört das Quietschen eines mit Raketenwerfer bewaffneten Pick-ups. Dieser bringt vier Verletzte in die Notaufnahme. Zwei davon sind Kinder, die mit hastig angelegten Bandagen bedeckt sind. Die anderen beiden Personen sind bereits tot. Nur wenige Stunden zuvor waren sie mit ihren Familien auf den Feldern im etwa 30 km entfernten Mawza gewesen – bis zu dem Zeitpunkt, als einer von ihnen in eine Mine trat.

Auch der 14-jährige Nasser wurde verletzt, als eine Mine explodierte. Er stammt aus Mafraq Al Mocha, eine Stunde von der Stadt Motscha entfernt. Heute ist ein wichtiger Moment für ihn – zum ersten Mal steht er auf Krücken und versucht, sein Gleichgewicht zu finden. Unser Physiotherapeut Farouk L.* hilft ihm dabei.

 

Agnes Varraine-Leca/MSF
Schritt für Schritt: Nasser versucht das erste Mal, auf Krücken zu gehen.

Am 7. Dezember trat der Junge auf eine Landmine, als er mit seinem Onkel und Cousin auf einem Feld Schafe hütete. Später an diesem Tag wurde Nasser im chirurgischen Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen im 50 km entfernten Motscha operiert. Sein rechter Fuß musste amputiert werden. “Der Knochen war völlig zerstört, so dass nichts mehr zu retten war", berichtet Farouk L*. 

Seit dem Unfall ist Nassers Vater Mohammed sehr besorgt, wenn er auf den Feldern rund um Mafraq Al Mocha spazieren geht. "Wir wissen, dass in der Stadt Minen verteilt wurden, aber das Problem ist, dass wir nicht genau wissen, wo", erklärt er. Es gibt nur eine Handvoll Anzeichen, die auf das Vorhandensein von Minen hindeuten. Nur ein paar rot lackierte Steine zeigen, wo man sicher laufen kann. Jeden Tag signalisiert ein gedämpfter Knall, dass ein weiterer Sprengsatz ausgelöst wurde.”

Bestraft - nicht einmal, sondern zweimal

Vor dem Krieg war das Gebiet zwischen Motscha und der Frontlinie landwirtschaftlich geprägt. Seit Beginn der Kämpfe sind in den Städten und Dörfern nahe den Kampfgebieten viele Bewohner:innen geflohen. Die umliegenden Felder wurden abgebaut, um den Vormarsch militärischer Truppen zu verhindern.

Eine 45-minütige Fahrt von Motscha entfernt, hat sich die Bevölkerung im Stadtteil Mawza halbiert. „Menschen, die hier leben, werden bestraft - nicht einmal, sondern zweimal. Die Minen sprengen nicht nur ihre Kinder in die Luft, sondern hindern sie auch daran, ihre Felder zu bewirtschaften. Sie verlieren ihre Einkommensquelle und Nahrungsmittel für ihre Familien“, berichtet Claire Ha-Duong, unsere Einsatzleiterin im Jemen.

 

Agnes Varraine-Leca/MSF
Kinder spielen in einem alten Auto in Mawza, 45 Minuten von Motscha entfernt. Die Menschen hier sind auf ihr Land angewiesen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen.

Zwischen August und Dezember 2018 haben die Teams von Ärzte ohne Grenzen in Motscha mehr als 150 Verwundete aufgenommen und behandelt, die von Minen und Sprengkörpern getroffen wurden. Ein Drittel von ihnen waren Kinder, die auf Feldern gespielt hatten. Sie sind lebenslang beeinträchtigt. Ihre Zukunft ist ungewiss.

Minen haben weitreichende Auswirkungen – nicht nur für einzelne Familien, sondern für die Gesellschaft als Ganzes. Denn die Betroffenen werden in Zukunft wahrscheinlich stärker von anderen abhängig und gleichzeitig sozial isoliert sein.

“Spezialisierte Organisationen und Behörden müssen ihre Anstrengungen zur Minenräumung in der Region verstärken, um die Anzahl der Opfer zu reduzieren", berichtet unsere Einsatzleiterin Claire Ha-Duong. Neben der Minenräumung strategischer Gebiete für militärische Zwecke müssen in den zivilen Gebieten dringend alle Arten von Minen und Sprengkörpern geräumt werden - nicht nur an Orten, an denen Menschen leben, sondern auch auf landwirtschaftlichen Flächen, damit die Menschen ihre Felder wieder sicher erreichen können.

Medizinische Einöde

Es vergeht kein Tag, an dem nicht Kriegsverwundete von den Frontlinien zwischen Taïz und Hodeidah im Krankenhaus von Ärzte ohne Grenzen in Motscha ankommen. 2012 hat Ärzte ohne Grenzen in Aden ein spezialisiertes Trauma-Krankenhaus eröffnet, das 450 km von Hodeidah entfernt liegt. Obwohl in Aden medizinische Versorgung zur Verfügung steht, haben die meisten Jemeniten kein Geld für die Behandlung oder den Transport dorthin.

Es dauert sechs bis acht Stunden, um von Hodeidah nach Aden zu fahren. Das Gebiet zwischen den beiden Städten ist zu einer medizinischen Einöde für die Menschen geworden, die dort leben. Unsere Klinik in Motscha ist die einzige Einrichtung in der Region mit einem Operationssaal. 

 „Wir sehen vor allem Patient:innen mit Kriegswunden. Manche schaffen es nicht rechtzeitig, nach Motscha zu gelangen und sterben an Verletzungen, die hätten behandelt werden können. Manchmal sind es auch schwangere Frauen, die während der Wehen aufgrund von mangelnder medizinischer Versorgung sterben," berichtet Husni Abdallah, eine Krankenschwester im Operationssaal

Seit der Eröffnung des Krankenhauses in Motscha hat das Personal mehr als 2.000 Notfallkonsultationen durchgeführt und rund 1.000 chirurgische Eingriffe durchgeführt.

*Name geändert