Krieg in der Ukraine: “Die Menschen fühlen sich verlassen”

02.02.2015
Essen und Medikamente werden knapp - Koordinatorin Emilie Rouvroy berichtet von vor Ort
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Aleksandr Leonidovich
Lugansk, Ukraine, 21.01.2015: Emilie Rouvroy, unsere Koordinatorin in Lugansk

Essen und Medikamente werden knapp, und die Menschen im Konfliktgebiet fragen sich, warum die Welt sie vergessen hat. Emilie Rouvroy, Koordinatorin von Ärzte ohne Grenzen in Luhansk, berichtet von der Situation im Osten der Ukraine:

"Die Kämpfe haben sich in den vergangenen Wochen dramatisch verschärft, und die Situation hier verschlechtert sich zunehmend. In den vergangenen fünf Tagen kam es zu schweren Kämpfen. Dauernd hören wir das Dröhnen der Bomben und das anhaltende knatternde Geräusche der Schießereien.

Häuser und Spitäler beschädigt

Mehr als 70 Häuser wurden Berichten zufolge in der vergangenen Woche beschädigt oder zerstört. Zudem wurden seit Beginn der Kämpfe im Sommer etliche Krankenhäuser beschädigt. In den vergangenen Tagen wurde zudem eine psychiatrische Einrichtung zerstört, die wir bereits seit längerem unterstützen.

Es wird immer schwieriger, die von dem Konflikt betroffenen Gebiete zu erreichen. Letzte Woche wurden die Checkpoints, die man passieren muss, um in die von den Rebellen kontrollierten Gebiete zu kommen, geschlossen. Niemand wurde mehr durchgelassen.

Ganze Bevölkerung von Konflikt betroffen

Die medizinische Versorgung ist abgeschnitten, und nur wenige Medikamente gelangen noch an ihr Ziel – das ist bereits seit Monaten so. Als Ärzte ohne Grenzen im Mai hier mit der Arbeit begann, konzentrierten wir uns darauf, Krankenhäuser entlang der Front mit Ausrüstung zu versorgen, die für die Behandlung von Kriegsverletzungen benötigt wird. Wenn du dich in einem Konfliktgebiet aufhältst, ist die Front dort, wo Menschen schwer verwundet und getötet werden.

Nach monatelanger Belastung des Gesundheitssystems ist klar, dass der Konflikt Auswirkungen auf die gesamte Bevölkerung in der Region hat: die Basisgesundheitsfürsorge, die Mutter-Kind-Versorgung, die Behandlung chronischer Krankheiten – alle Bereiche sind betroffen.

Wenn man ein Krankenhaus oder Basisgesundheitszentren betritt, findet man viele leer vor. Die Ärzte haben nicht genügend Medikamente. Sobald wir Nachschub bekommen, verteilen wir die Lieferung. Aber es reicht nicht aus. Das größte Problem ist, dass es nicht genügend Psychopharmaka und Narkosemittel gibt, die wir für Operationen benötigen. Die Ärzte brauchen dringend Medikamente.

Schwere Mängel in Pflegeeinrichtungen

Aber Medikamente sind nicht das einzige Problem. Ich habe Waisenhäuser, Seniorenheime und Einrichtungen für körperlich und geistig Beeinträchtige besucht. Ich sah geschwächte Menschen, die nicht genug Essen bekommen. Sie sind von Spenden und dem guten Willen ihrer Mitmenschen abhängig. Ihr Leben hängt an einem seidenen Faden. An einem Tag bekommen sie einen Sack Kartoffeln, an einem anderen Kohl. In der Küche steht zwar immer irgendwas zu Essen auf dem Herd, aber die Kühlschränke sind leer.

Die Direktorin einer Senioreneinrichtungen, die wir letzte Woche besuchten, brach vor uns in Tränen aus: 'Wir sind immer noch hier, wir versuchen alles', berichtet sie, 'aber uns bleiben nur Worte, um die Menschen zu behandeln.'

Es fehlt an allem: Putzutensilien, Seife, selbst an Windeln. Wenn es keine Windeln gibt, führt das dazu, dass tausende Menschen in Pflegeeinrichtungen, Waisenhäusern und Hospizen für Menschen mit Behinderungen Tag und Nacht in ihren Exkrementen liegen. Aber auf dem Markt gibt es keine Windeln mehr. Wir haben mehr als 10.000 bestellt, aber das wird nicht ausreichen. Wir bräuchten Millionen. Und jetzt, wo der Zugang zu dem Konfliktgebiet gestoppt wurde, verschlimmert sich die Lage noch.

Menschen sind traumatisiert und erschöpft

Sich monatelang hinziehende Kämpfe haben enorme psychologische Auswirkungen auf die Menschen auf beiden Seiten der Front. Eine Stadt, 500 Meter von der Front, die ich erst vor Kurzem besuchte, wurde wiederholt bombardiert. Häuser wurden zerstört, die Stromversorgung wurde unterbrochen, die Menschen sind traumatisiert.

Der Chefarzt des Krankenhauses bat uns um Unterstützung für seine Mitarbeiter, weil sie so angespannt sind, dass sie keine Patienten behandeln können. Wir haben unser psychologisches Team entsendet und hoffen, dass wir unsere psychologische Unterstützung weiter ausbauen können.

In einer anderen Stadt, zehn Kilometer von der Front entfernt, traf ich den Bürgermeister. Er weinte, als ich mit ihm sprach. Die Situation ist einfach zu schwierig. Seitdem gab es weitere Bombardierungen. Wir werden zurückkehren, um einige Dinge zu spenden, die für die Behandlung von Kriegsverletzten gebraucht werden. Darüber hinaus werden wir Decken und Hygieneartikel zur Verfügung stellen.

Pensionen und Gehälter werden nicht ausbezahlt

Die Menschen hier haben seit sechs Monaten ihre Rente nicht ausgezahlt bekommen. Sie haben kein Geld mehr und auch die Industrie ist zusammengebrochen. Dieser Krieg hat so viel zerstört.

Ärzte arbeiten nach wie vor. Einige von ihnen laufen über eine Stunde pro Tag zu ihrem Arbeitsort, weil sie kein Geld mehr haben, um den Transport zu bezahlen. Sie arbeiten unbezahlt, seit sechs Monaten haben sie keinen Lohn bekommen. Das Einzige, was das System am Laufen hält, ist das Engagement und der Einsatz der Gesellschaft und des medizinischen Personals. Es ist beeindruckend, diese Art von Solidarität zu beobachten. Dennoch kann man von den Leuten nicht erwarten, dass sie monatelang so weiter machen. Die Menschen befinden sich in einer Arte Wartezustand. Doch wenn es so weiter geht, ist es nur eine Frage der Zeit, bevor sie zusammenbrechen.

"Wo ist die internationale Gemeinschaft?"

Viele Dinge an diesem Konflikt sind schrecklich, aber das Schlimmste ist, dass sich die Menschen verlassen fühlen. Sie sind dankbar, dass wir da sind. Aber egal, wohin wir gehen, fragen sie uns: 'Wo sind alle? Wo sind die Journalisten? Wo ist die internationale Gemeinschaft? Jeden Tag sterben hier Menschen.'"

Dieser Text erschien im Original am 26. Januar 2015 in der britischen Tageszeitung The Guardian .